Komponist*innen

Schlünz, Annette (* 1964)

* 23. September 1964 in Dessau

Biografie

Die in Dessau geborene Komponistin Annette Schlünz erhielt bereits als Vierjährige ihren ersten Instrumentalunterricht im Fach Blockflöte, war langjähriges Mitglied des Kinderballetts des Landestheaters Dessau und wirkte bei zahlreichen Theater- sowie Musikaufführungen in den Bereichen Oper, Operette und Musical (hier auch im Kinderchor) mit. Von 1971 an besuchte sie die Dessauer Musikschule und lernte neben Blockflöte, Klavier  und Musiktheorie ab 1976 auch Oboe.  Ebenfalls ab 1976 war sie Mitglied der von Hans-Jürgen Wenzel geleiteten Komponistenklasse Halle/Dresden, an der sie von 1983 an auch selbst unterrichtete. Ihre Kompositionslehrer dort waren Günther Eisenhardt und Dietrich Boekle. In diesem Rahmen entstanden erste kompositorische Werke, die auch öffentlich aufgeführt wurden.

Von 1983 bis 1987 studierte Annette Schlünz an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden Komposition bei Udo Zimmermann, Klavier bei Heidrun Richter, Tonsatz / Moderne Techniken bei Wilfried Krätzschmar sowie Dirigieren und Elektronische Musik. Im Jahr 1987 erhielt sie einen Lehrauftrag an der Dresdner Musikhochschule und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin von Udo Zimmermann am Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik. Ihr Kompositionsstudium setzte sie als Meisterschülerin von Paul-Heinz Dittrich an der Berliner Akademie der Künste bis 1991 fort.

Trotz ihrer musikalischen Sozialisation in der DDR verlief der kompositorische Werdegang von Annette Schlünz nicht isoliert von der westlichen Avantgarde, wie sie selbst betont. Über Udo Zimmermann lernte sie bereits in den 1980er-Jahren internationale Schlüsselwerke kennen und konnte u. a. bei Reisen zur Musik-Biennale nach Ost-Berlin und zum Bartók-Festival im ungarischen Szombathely weitere Erfahrungen sammeln. Sie hatte auch schon vor der politischen Wende Kontakt zur westdeutschen Festival-Szene, was Aufführungen ihrer Werke bei renommierten Veranstaltungen wie z. B. dem Heidelberger Festival „Gegenwelten“, den Wittener Tagen für Neue Kammermusik oder der Münchener Konzertreihe „Musica Viva“ belegen.

Im Jahr 1992 zog Annette Schlünz nach Südfrankreich und widmete sich länderübergreifenden Projekten zwischen Musik und Bildender Kunst sowie einer internationalen Dozententätigkeit, die sie ab 1995 auf Einladung des Goethe-Instituts bis nach Argentinien, Chile, Brasilien, Lettland, Vietnam und in die USA führte. Im Jahr 1994 war sie Mitbegründerin des zwischen Musik, Bildender Kunst und Szene agierenden französisch-deutschen Ensembles „Compagnie de Quatre“.

Annette Schlünz erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Sie war u. a. 1999 Stipendiatin der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom, 2000 der Akademie Schloss Solitude Stuttgart, 2003 des Künstlerinnenhofes „Die Höge“ bei Bremen sowie ab 2005 mehrfach Composer-in-residence im elektronischen Studio GRAME Lyon und 2009 beim Impuls-Festival in Sachsen-Anhalt. 2006 und 2017 hatte sie Stipendien des Künstlerhofes Schreyahn inne und war 2014 Stipendiatin des Deutschen Studienzentrums Venedig. 1990 erhielt sie den Hanns-Eisler-Preis des Deutschlandsenders Berlin für ihr Streichtrio Il pleut doucement sur la ville und 1998 den Heidelberger Künstlerinnen-Preis. 2002 war sie Preisträgerin im 2. internationalen Forum des französischen Ensembles „Aleph“ mit der Komposition aufgelöst (verschlungen). Sie ist seit 2010 Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, seit 2015 Sekretär der Klasse Musik. Des Weiteren gehört sie der Freien Akademie der Künste in Hamburg an und ist seit 2015 Leiterin der Masterclass Komposition beim Impuls-Festival für Neue Musik Sachsen-Anhalt. Sie engagiert sich zudem für den Komponistennachwuchs als Dozentin in Ferienkursen der Komponistenklassen Sachsen-Anhalt und Dresden sowie als Jurorin bei der Orchesterwerkstatt junger Komponisten in Halberstadt.

1998 zog Annette Schlünz nach Straßburg und lebt heute in einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg nahe der französischen Grenze. Seit 2018 ist sie Dozentin für Komposition am Conservatoire de Strasbourg.

Mit dem Steel-Cello im Dessauer Bauhaus – Vorbereitungs-Workshop zum Impuls-Festival 2019

Musik / Werke

„Annette Schlünz hat sich mit ihren Werken, die oft Musik mit Bildender Kunst und Dichtung verbinden, insb. in ihren beiden Heimatländern Deutschland und Frankreich einen Namen gemacht.“ (Geißler 2016) Ihr kompositorisches Schaffen ist äußerst umfangreich und umfasst sämtliche Genres: Bühnenmusik, Werke für Stimme und Instrument(e), Vokalmusik a cappella, Orchestermusik, Kammermusik (mit Elektronik), Werke für Soloinstrument (plus Elektronik), Elektronische Musik, Alternative Klangerzeuger, Installationen, Grafische Partituren (nach Möller 2018).

Prägend sind die Bezüge ihrer Kompositionen zur Literatur, insbesondere den literarischen Werken des französischen Autors Pierre Garnier, der Schriftstellerin Undine Gruenter (1952–2002) und der 1962 in München geborenen Ulrike Draesner, mit der sie eng zusammenarbeitet. So haben denn alle Werke – auch die Instrumentalkompositionen – einen poetischen Titel, meist in deutscher oder französischer Sprache, lebt doch die Komponistin zwischen diesen beiden Ländern. Es gibt Werkbezeichnungen wie Ornithopoesie für 12 Gesangssolisten nach einem Text von Pierre Garnier (1989), Il pleut doucement sur la ville für Streichtrio (1989), Taubenblaue Schatten haben sich vermischt für Flöte und Gitarre (1990), verstummen. Musik für Orgel und drei Schlagzeuger (1994), aufgelöst (verschlungen) für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello (2000), Hortensien für Bassklarinette und Vierspurband (2002), auch ameisen wären gern vögel. Musik für das Industriegelände Hard/Wülflingen (Schweiz, 2002) für Sopran, Bassklarinette, Akkordeon, 2 Schlagzeuger, Chor/Akteure,  Journal n° 2 (Schneeland) für Akkordeon solo (2006/07), Blaulaub für Blockflöte solo (Großbass-, Tenor-, Sopran- und Sopraninoblockflöte), Bass-Koto solo, Orchester und Live-Elektronik (2007/08) und C’est d’abord la lumière für Violine und Trompete (2010). Ihre Oper TagNachtTraumstaub war ein Auftrag des Deutschen Pavillons der EXPO 2000 in Hannover,

Eine ausführliche Werkliste ist hier zu finden. Die meisten Kompositionen sind bei Boosey & Hawkes und Ricordi München verlegt, ein Teil erschien auch im Eigenverlag. Viele von ihnen sind Auftragskompositionen.

“tschang wie torkel” für Vokalquartett, entstanden Ende 2020 im Auftrag des MDR

 

Bereits die erste veröffentlichte Komposition von Annette Schlünz, Pensif für Blockflöte (1978), zeigt für ihre Kompositionsweise prägende Merkmale, indem z. B. besondere Klangwirkungen des Instruments wie verschiedene Anblastechniken und Vibrato-Arten sowie Multiphonics ausgereizt werden. Steht hier ein einzelner Ton im Zentrum des Werks, ist beispielsweise in Ornithopoesie eine gewisse Polystilistik erkennbar. Ein immer wiederkehrendes Element in der Kompositionsweise von Annette Schlünz ist das Dialogische der Stimmen und Instrumente, ein „Frage-und-Antwort-Spiel“ (vgl. Möller 2018), bei dem die Instrumente selten gemeinsam agieren. Ihre Musik ist geprägt von „klanglicher Askese, materialer Enthaltsamkeit und reduzierter Besetzung“ (Geißler 2016). „Doch trotz der zahlensymbolischen Verwobenheit vieler musikalischer Details, trotz rational bedingter Formenkonstruktion verhalten sich ihre Klanggestalten eher wie Lebewesen, die sich der mentalen Kontrolle dann doch wieder entziehen, indem sie eigenständig und keimzellenartig im Prozeß der Komposition zu wachsen beginnen.“ (Nicolai 1998) Annette Schlünz  sieht die Musik als nonverbale Sprache und bezieht Alltagserlebnisse ebenso in ihre Kompositionen mit ein wie die „Musikalität“ zeitgenössischer Poesie.

Besonders seit den 2000er-Jahren integriert Schlünz zunehmend Elektronik in ihre Kompositionen, teils verbunden mit einem besonderen Raumkonzept. Es entstanden Klang- und Video-Installationen und Performances, allen voran das Orchesterwerk Blaulaub, das in München im Jahr 2008 im Rahmen von „Musica Viva“ erfolgreich uraufgeführt wurde.

Klangbeispiele

tastend, tränend (2001), Elizaveta Birjukova – Flöte, Christoph Ritter – Klavier, 31.08.2020 Kunstfest Weimar, Deutsches Nationaltheater, Foyer

Carnevale dei ragazzi 2017 – I giardini veneziani, un puzzle musicale (Die venezianischen Gärten – ein musikalisches Puzzle), Ca’ Giustinian, Venedig, 19. Februar 2017, UA (Näheres hier)

Echoes and Reflections (2018), Bassflöte – Emiliano Gavito, Bassklarinette – Adam Starkie

Journal nº 6 (Kraniche) (2011), Claudia Buder – Akkordeon

tschang wie torkel, Mikrokompositionen bei MDR KLASSIK

Diskographie hier

Literatur

Frank Geißler, Art. „Schlünz, Annette“, in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 2008, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/article?id=mgg16809&v=1.0&rs=id-b494713a-829d-8672-ad3b-f75ad94ee6c5.

Torsten Möller, Artikel „Annette Schlünz“, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff., Stand vom 15.5.2018, https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000731, abgerufen am 03.05.2021.

Felicitas Nicolai, Eine Einführung in die Musik von Annette Schlünz, 1998, https://www.boosey.com/pages/cr/composer/composer_main?composerid=18036&ttype=INTRODUCTION, abgerufen am 03.05.2021.

Links

Annette Schlünz bei Ricordi München

Annette Schlünz bei Boosey & Hawkes

Sächsische Akademie der Künste

SM 2021