
Orgelbauer
Georg Reichel – geb. ca. 1628 in Glashütte (Erzgebirge), gestorben am 15. Februar 1684 – war Orgelbauer und Organist und erhielt 1655 durch den Administrator Herzog August das „Privilegium seiner erlernten Orgelmacherkunst für den Saalkreis” (Baulizens). Sein erster großer Auftrag war die Renovierung und Erweiterung der großen Marktkirchenorgel von 1654–1655. Dabei erweiterte er die Anzahl der vorhandenen Register von 31 auf 42. Für seine gut bewertete Arbeit erhielt er 1656 die „Bestallung zur ständigen Orgelpflege der Marktkirche”. Auf Wunsch der Gemeinde baute er 1663 die „kleine” Orgel der Marktkirche, welche sein einziges bis heute erhaltenes Werk ist.

Orgelgeschichte
(Die unterstrichenen Begriffe finden sich im Orgelglossar.)
Die bis zur ihrer Restaurierung 1972 als „Händel-Orgel” bezeichnete „Reichel-Orgel” wurde am 1. September 1663 von der Marktkirchengemeinde bei Georg Reichel in Auftrag gegeben. Sie sollte die 1597 abgebaute Ostorgel und deren Nachfolgeinstrumente, ein Regal und ein Positiv, ersetzen, da diese bei der Gemeinde Missfallen erregt hatten. Der Bau wurde im November 1663 begonnen und am 12. Februar 1664 mit einem Gesamtkosten-Abschlag von 271 Schock, 3 Gr. und 6 Pf. beendet (vgl. Konrad Brandt, Zur Geschichte der Reichel-Orgel in der hallischen Marktkirche, s. u. Quellen). Am 15. Februar 1664 wurde die Orgel eingeweiht, wie von Superintendent Gottfried Olearius in seiner Schrift „Christliche Orgelweyhe 1664″ dokumentiert wurde. Darin heißt es u. a.:
„Nim an dis Orgelwercklein/ so zu deiner Ehr und schuldigen Dienst erbauet und gewidmet ist/ laß es dir geheiliget/ und samt dieser Kirch und Gemeine/ samt den andern allen/ wie auch Stadt und Lande/ Obrigkeit/ Predigambt und Haußwesen/ in diesen letzten höchstgefährlichen Zeiten/ zu Gnaden befohlen seyn/ behüte es für aller Entheiligung/ Verunreinigung und Verwüstung/ vergilt mit reichem Segen/ die dabey verspürete und ferner befördrende Mildigkeit und Freywilligkeit/“ (Olearius 1664, s. u. Literatur)
Eingesetzt wurde die Orgel zu dieser und der folgenden Zeit in großen, geistlichen Konzertmusiken (z. B. in Werken des Komponisten Sebastian Knüpfer, der von 1657–1676 Thomaskantor in Leipzig war) sowie für kleine Nebengottesdienste und das Zusammenspiel mit der „großen” Marktkirchen-Orgel. Dies war durch die gleiche Stimmung möglich. Die Orgel wird in den Folgejahren in mehreren Dokumenten schriftlich erwähnt, wodurch sich die weitere Verwendung und der Werdegang nachvollziehen lassen. So wurde sie 1757 unter Wilhelm Friedemann Bach bei einem „Te Deum” nach dem Sieg der Preußen bei Roßbach („Abwechslung der Orgeln”) gespielt.
1766 erfolgte eine größere Reparatur durch Gottfried Beyer (Inschrift in der Orgel). Über ihr Schicksal im 19. Jahrhundert gibt ein in der Orgel selbst gefundener Zettel von Orgelbauer Wäldner Auskunft. Dieser reparierte das Instrument nach längerer Unspielbarkeit. So wurden Register instandgesetzt, die Tretbälge durch einen Magazinbalg ersetzt und die Stimmung der Orgel um 2 Ganztöne herabgesetzt (Verlängerung der Pfeifen). Dies war notwendig, da die „große Orgel” zu dieser Zeit neu gebaut wurde und eine „Notorgel” vorhanden sein musste.
1906 gibt der Orgelforscher Hermann Mund in einem Bericht an, dass die Orgel kaum noch spielbar sei. Sie habe einen schönen Prospekt und könne als stummes Zeitzeugnis der Kunst des 17. Jh. dienen, weshalb dem Prospekt ein stummes Gehäuse gegeben werden solle. Es folgten daraufhin mehrere Restaurierungsversuche, die alle aus unterschiedlichen Gründen (trotz Orgelbaubewegung) scheiterten.
Durch eine 1967 in der Marktkirche geplatzte Ferndampfleitung nahm die Kirche großen Schaden, weshalb eine große Restaurierung erfolgte, bei der auch die „Reichel-Orgel” bedacht wurde. 1969 wurde diese abgebaut, 1971 in der Orgelbauwerkstatt Schuke restauriert und am ersten Adventssonntag 1972 wieder eingeführt. Während die Temperatur nach dieser Restaurierung gemäßigt mitteltönig war, wurde die Orgel 1982 kompromisslos mitteltönig gestimmt (8 große Terzen rein, demnach die Quinten 1/4 syntonisches Komma zu klein).
Von November 2008 bis März 2009 wurde die Orgel durch die Firma Wegscheider (Dresden) gereinigt. Sie ist aktuell spielbar und wird in Gottesdiensten verwendet.

Technische Ausstattung
Die Reichel-Orgel befindet sich unmittelbar hinter der Sandsteinbrüstung der Ostempore der Marktkirche. Sie ist daher von hinten zu spielen und ist demnach kein Brüstungspositiv. Das Instrument ist mechanisch – die Registrierungen erfolgen über Schleifladen. Die gesamte technische Anlage des Positivs befindet sich im Unterbau. Die Rückwand des Wellenbrettes ist die Vorderfront des Spielschrankes.
Alle Lagerhölzer von Windlade, Register– und Tonmechanik sind im Unterbau befestigt, die Windlade ist gespundet (Kanzellen sind verschlossen) und hat niedrige breite Kanzellen. Die stehenden hölzernen Registerwellen übertragen die Schleifenbewegung zum Spielschrank, in welchem noch die original erhaltenen Registerknöpfe vorhanden sind. Die ursprüngliche Windversorgung wurde durch drei Tretbälge bewerkstelligt. Diese wurden im 19. Jh. durch einen Magazinbalg ersetzt.
Disposition:
GrobGedackt 8 Fuß SuperOctav 1 Fuß
Sesquialtera 2fach Octava 2 Fuß
Spillflöte 4 Fuß Principal 4 Fuß
Besonderes zu den Registern:
Die Sesquialtera besteht aus zwei Pfeifenreihen Terz 13/5 Fuß und Quinte 11/3 Fuß ohne Repetition. Sie gleicht aufgrund dieser Registerkombination eher einem Tertian als einer Sesquialtera, welche normalerweise aus 22/3 und 13/5 Registern besteht. Die Gedacktpfeifen sind durchweg aus Holz gebaut. Die Spillflöte ist aus Metall und wie eine Spitzflöte gebaut.
Manual und Pedal:
Die Orgel besitzt ein Manual, welches ein einarmiger Hebel bestehend aus 48 Tasten von C, D bis c´´´ ist. Ein Pedal ist nicht vorhanden.
Stimmung:
Die Reichel-Orgel ist seit 1982 konsequent mitteltönig gestimmt, was ihrer alten Temperatur entspricht. Die mitteltönige Stimmung wurde vor allem in der Renaissance- und Barockzeit verwendet. Unter Beibehaltung reiner Oktaven ist sie gekennzeichnet durch den Vorrang der reinen großen Terz und einen Ausgleich des großen und kleinen Ganztons der Obertonreihe in der Mitte (daher mitteltönig). Da vier aufeinanderfolgende reine Quintschritte zu einer (um das syntonische Komma) größeren Terz führen als die reine Terz, wird in der mitteltönigen Stimmung diese Differenz auf vier Quinten verteilt, die jeweils um ein Viertel des Kommas verringert werden. Wegen der Forderung nach reinen Oktaven ergibt sich dabei nach elf verkleinerten Quinten die klanglich unbrauchbare größere „Wolfsquinte“, bei der es sich eigentlich um eine verminderte Sexte handelt. Dadurch klingen entferntere Tonarten unrein. Es muss demnach bei mitteltönig gestimmten Instrumenten darauf geachtet werden, in welcher Tonart das zu spielende Stück steht.

Hat Händel auf dieser Orgel gespielt?
Die lange als “Händel-Orgel” bezeichnete Reichel-Orgel soll auch von Georg Friedrich Händel bespielt worden sein. Es ist gut möglich, dass Händel während seiner Ausbildungszeit bei Friedrich Wilhelm Zachow an der Marktkirchenorgel gespielt hat, jedoch gibt es keine Dokumente über seine einjährige Ausbildung. Lediglich seine Tätigkeit als Domorganist und die damit verbundenen Fähigkeiten bieten die Voraussetzungen, die ein Spielen an diesem Instrument durch ihn möglich machen.
Ziemlich sicher ist, dass Händel an der kleinen Marktkirchenorgel nicht regelmäßig geübt haben wird. Zum einen ließ die permanente Nutzung der Marktkirche, zum anderen die Notwendigkeit des Tretens der Bälge durch drei Kalkanten dies nicht zu. Die Ausbildung und somit das Üben und der Unterricht erfolgten zu Händels Zeit wie bei anderen Lehrberufen im Haus des Lehrmeisters, wo am Clavichord geübt werden konnte.
Es lassen sich insgesamt vier Anlässe zum Spielen Händels an der Reichel-Orgel herausfiltern:
a) Kurze Einweisung in das Instrument, nachdem der Unterricht bei Zachow beendet war
b) Kurzes Orgelüben für Ensemble-Spiel
c) Orgelspiel im Ensemble – Händel spielte wahrscheinlich das Instrument, während Zachow das Orchester leitete oder ein anderes Continuo-Instrument spielte
d) Das Orgelspiel in kleinen Nebengottesdiensten; Zachow hat sich der gängigen Praxis entsprechend vermutlich bei kleinen Gottesdiensten von seinen besten Schülern vertreten lassen – so auch von Händel

Klangbeispiele
Variationen 1 und 2 aus Air aus der d-Moll-Suite von Georg Friedrich Händel (HWV 428), gespielt an der Reichel-Orgel in der halleschen Marktkirche von Christoph Ständer:
Registrierung Variation 1: 1. Teil GrobGedackt 8 Fuß, 2. Teil zusätzlich Spillflöte 4 Fuß
Registrierung Variation 2: 1. Teil neben den oben genannten beiden Registern zusätzlich Principal 4 Fuß, 2. Teil Octave 2 Fuß
Quellen
(aus dem Archiv der Marktkirchengemeinde)
Brandt, Konrad, Zur Geschichte der Reichel-Orgel in der hallischen Marktkirche, S. 14–18.
VEB Potsdamer Schuke-Orgelbau, Bericht über die Restaurierung des Chorpositivs in der Marktkirche in Halle.
Wegscheider, Kristian, Angebot für eine Reinigung der Reichelorgel; Restaurierungswerkstatt für Orgeln Dresden, den 19.09.08.
Wegscheider, Kristian, Bericht und Kostenanschlag für eine weitgehende Restaurierung der Reichel-Orgel in der Marktkirche zu Halle; Restaurierungswerkstatt für Orgeln, Dresden den 19.06.09.
Literatur
Felix Friedrich, Vitus Froesch, Orgeln in Sachsen-Anhalt – Ein Reiseführer, Altenburg 2014, S. 66–69, 236.
Olearius, Gottfried, Encoenia HierOrganica (Halle 1664), Lucinde Braun (Hrsg.), Deutsche Orgelpredigtdrucke zwischen 1600 und 1800 – Katalogisierung, Texterfassung, Auswertung, Universität Regensburg, Institut für Musikwissenschaft, Bearbeitungsstand: 30.5.2022, DOI: 10.5283/orgelpr.e000089txt, aufgerufen am 27.10.2022.
Links
Die Orgeln der Marktkirche, Kirchenmusik an der Marktkirche zu Halle
Website der Marktkirchengemeinde
Die Reichel-Orgel auf der Website der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik Halle (Saale)
Video (Link)
Die Orgel – ungewohnte Einblicke in das Instrument des Jahres 2021
Das anschauliche Video von KMD Martina Pohl und Ulrike Großhennig bietet Schüler*innen die Möglichkeit, am Beispiel der Hildebrandtorgel in Sangerhausen in das Innere einer Orgel zu schauen, die Funktionsweise kennenzulernen, Fragen zu stellen und sich Detailwissen anzueignen. Das Video ist für schulische Zwecke genauso geeignet wie für Interessierte an diesem einzigartigen Instrument.
Materialien zum Download
Powerpoint-Präsentation:
Von der Taste zum Ton (Eine kleine Führung durch die Orgel), Autorin: Friederike Heckmann
Von der Taste zum Ton (PDF-Datei)
Arbeitsblätter:
Blanko-Arbeitsblätter zum Ausfüllen (für Grundschule und ab Sekundarstufe I) für Exkursionen zu regionalen Orgeln im Unterricht (Erstellung von Orgelsteckbriefen) finden Lehrer*innen auf dem Bildungsserver des Landes unter Regionalkultur.
Christoph Ständer 2022
Der Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars im Sommersemester 2020 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.