Musikleben

Parisius, Ludolf (1827–1900, Volksliedsammler)

* 15. Oktober 1827 in Gardelegen, † 11. März 1900 in Berlin

Biografie

Ludolf Parisius wurde am 15. Oktober 1827 in Gardelegen in der Altmark als Sohn eines Pfarrers geboren. Nach der Beendigung seiner schulischen Laufbahn am Gymnasium in Salzwedel zog er nach Halle, um dort Mathematik und Rechtswissenschaft zu studieren. Als Student wurde er zunächst im bis heute existierenden Corps Palaiomarchia aktiv (Palaiomarchia ist ein Kunstwort aus griech. palaios = alt und lat. marchia = die Mark), 1849 dann auch in der Burschenschaft Fürstenthal Halle. Bei Burschenschaften handelt es sich stets um politische Studentenverbindungen, die maßgeblich an der Revolution 1848 beteiligt waren und sich der Demokratie sowie einem vereinigten Deutschland verschrieben hatten.

Die Alte Oberpfarre in Gardelegen, das Geburtshaus von Ludolf Parisius.

 

Bereits während seiner Studienzeit interessierte sich Parisius für die Volkslieder aus der Altmark und dem Magdeburger Land, die bis dahin teilweise in Vergessenheit geraten waren und weitestgehend mündlich überliefert wurden. Er fing an, solche Lieder aufzuzeichnen, wenn er seine alte Heimat in Gardelegen besuchte. Mit dem systematischen Sammeln der Volkslieder begann er nach dem Studium, als ihn seine juristische Karriere zunächst nach Burg bei Magdeburg, dann zurück nach Gardelegen führte. Parisius war es an einer vollständigen Liedersammlung altmärkischer Volkslieder gelegen, angetrieben war er stets davon, dem Volksliedreichtum seiner bis dahin kaum beachteten Heimat zu mehr Ansehen zu verhelfen. Allerdings ließ ihm seine Karriere im Laufe der Jahre kaum die Zeit, die Lieder weiter zu erfassen, da er eine zunehmend politische Laufbahn einschlug. 1861 wurde er als Kandidat der Deutschen Fortschrittspartei für seinen Heimatkreis Salzwedel-Gardelegen in das Abgeordnetenhaus gewählt. Er vertrat als Verfechter der Werte der 1848er-Revolution einen steten Kurs gegen die Politik Otto von Bismarcks, was ihm im Jahr 1864 eine Dienstentlassung ohne Pension einbrachte, jedoch auch großen Rückhalt in seiner Heimat. Trotz der Entlassung versuchte er seine politischen Ziele und seinen regierungskritischen Kurs auch weiterhin zu vertreten und siedelte 1866 nach Berlin über, wo er zunächst im preußischen Abgeordnetenhaus und später im Reichstag politischen Einfluss ausüben konnte und dies auch tat. Insbesondere seine politischen Kampfschriften finden heute noch Beachtung.

Trotz seiner turbulenten politischen Aktivitäten beschäftigte sich Parisius stets weiterhin mit der Altmark und brachte gemeinsam mit Hermann Dietrichs das Heimatbuch Bilder aus der Altmark heraus. Auch schrieb er Romane, die sich mit der Altmark beschäftigten. Das Ziel, eine vollständige Liedersammlung herauszugeben, konnte Parisius bis zu seinem Tod im Jahr 1900 nie verwirklichen.

Die Sammlung

Dennoch gelang es Parisius, wenigstens Teile seiner Sammlung zu veröffentlichen. 1857 erschienen zehn Volkslieder in der Zeitschrift Deutsches Museum. Im 19. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Geschichte zu Salzwedel gab er 1879 unter dem Titel Deutsche Volkslieder mit ihren Singweisen in der Altmark und im Magdeburgischen gesammelt eine Liedersammlung heraus, die insgesamt etwa 300 nach Liedtyp geordnete Lieder umfasste. Quelle seines gesammelten Liedschatzes waren „Dienstmädchen, Bauersfrauen und Betteljungen“ (Hobohm 2007, S. 53) aus Dörfern in der Altmark und im Magdeburgischen. Parisius schrieb in der Einleitung seiner Veröffentlichung von 1879:

„Bald gelangte ich zu der Überzeugung, daß der Liedschatz des Volkes im Magdeburgischen und in der Altmark ein sehr reicher gewesen sei und daß eine große Anzahl Balladen und anderer alter Lieder mit gut erhaltenen, wenig veränderten Texten, namentlich in den altmärkischen Dörfern, aus Volksmunde noch immer zu gewinnen sein müsse. Mehr noch wie von den Texten galt dies von den Singweisen. Nur der Aufzeichnung alles dessen, was die liederkundigen Mädchen und Frauen von drei oder vier kleinen altmärkischen Dörfern an Volksliedern zu singen wußten, hätte es bedurft, um eine Sammlung zustande zu bringen, die sich mit jeder der landschaftlichen Sammlungen allenfalls mit Ausnahme der schlesischen Hoffmanns, messen konnte.“ (Zit. n. Hobohm 2007, S. 54)

Eine Frau Ackermann Jennrich aus Estedt in der Nähe von Gardelegen soll sogar mehr als 100 Lieder und Balladen im Repertoire gehabt haben: „Estedt, Cassieck, Mieste, Lüfflingen sind Hopfendörfer. Die Frau Ackermann Jennrich in Estedt nannte ich dort die liederkundigste aller Frauen, die mir vorgekommen sei. Ich bin der Überzeugung, daß sie damals (1867) noch weit über 100 Singweisen und Texte von Volksliedern kannte, dazu eine große Menge anderer weltlicher Lieder usw.” (Ludolf Parisius 1879, zit. n. den Informationen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt zum Nachlass, s. Link unten)

Auch wenn seine Sammlung bis zu seinem Tod unvollständig blieb, versuchte sein Erbe Max Parisius zunächst, eine Druckausgabe zu veröffentlichen, bevor  der gesamte Nachlass schließlich laut einem Aktenvermerk „am 15. Mai 1921 von Geheimrat Prof. Karl Voretzsch, Halle, der Universitäts- und Landesbibliothek Halle im Auftrage der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die Eigentümerin bleibt, zur Verwahrung übergeben (Aktenvermerk 329/21)” wurde (s. Link zum Nachlass).

1911 erfuhr die Sammlung zusätzliche Beachtung, als Friedrich Sannemann auf dem 4. Kongress der Internationalen Musikgesellschaft in London auf sie verwies. 1931 gab Fritz Jöde ein Schulliederbuch für die Altmark heraus, welches auch Lieder aus der Parisius-Sammlung enthält.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sammlung weiter erschlossen, so wurden beispielsweise Begleitungen für Akkordinstrumente hinzugefügt, wodurch die Lieder an Popularität bei Chören und Musiziergruppen gewannen. Wissenschaftlich bearbeitet wurde sie insbesondere von Ingeborg Weber-Kellermann, die eine Gliederung der Lieder „nach den Liedträgern und Aufnahmeorten” (Hobohm 2007, S. 55) vornahm. Diese Publikation aus dem Jahr 1957 (s. u. Literatur) enthält auch die Volkslieder selbst.

Die Parisius-Sammlung umfasst „rund 900 Einzelaufzeichnungen” (vgl. Stockmann 1958, S. 11). Davon liegt mit „273 Liedtypen in 782 Fassungen (davon 221 mit Melodie)” (ebd.) der größte Teil in der Ausgabe von Irmgard Weber-Kellermann gedruckt vor. Die Melodien wurden von Erich Stockmann herausgegeben. Nicht erfasst sind hier die zahlreichen Kinderlieder, -spiele und -reime sowie Heischelieder, Scherzreime, Rätsel, Wetterregeln u. a., die Parisius selbst im Gegensatz zu den Volksliedern nur als „Randerträgnisse seiner Sammelarbeit” (ebd.) wertete.

Literatur

Wolf Hobohm, „Volksmusikforschung und -überlieferung in Sachsen-Anhalt. Teil 1: Die Altmark und das Magdeburgische“, in: Musikkultur in Sachsen-Anhalt seit dem 16. Jahrhundert (= Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts, H. 42), Halle 2007, S. 52–60.

Doris Stockmann, Der Volksgesang in der Altmark. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1962, zugl. Diss. Berlin 1958.

Ingeborg Weber-Kellermann, Ludolf Parisius und seine altmärkischen Volkslieder, Berlin 1957.

Links

Ich bin ein armer und elender Bauer (Liedtext aus der Sammlung Parisius im Volksliedarchiv)

Parisius-Nachlass in der Uni-Bibliothek Halle

Bilder aus der Altmark (digitale Version des Buches von Hermann Dietrichs und Ludolf Parisius)

Anregungen für den Unterricht

Rudolph Palme, Zeitgenosse von Parisius, wurde ebenfalls durch seine musikalischen Sammlungen bekannt. Darunter fanden sich neben Orgel- und Chorwerken auch Lieder für Sologesang.

Welche Ordnungskriterien könnten dem Aufbau einer solchen Liedersammlung zugrunde liegen und wie lässt sich das auf heutige Liederbücher übertragen (s. Arbeitsblatt Rudolf Palme – Zusammenstellen von Sammlungen)?

Sebastian Koerdt 2017

Der Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars im Sommersemester 2017 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.