* 24. April 1870 in Gardelegen, † 03. März 1931 in Düsseldorf

Biografie
Der in der damaligen Sandstraße 10 („Altmärkische Bierstube“) in Gardelegen als Friedrich Otto August Pfützenreuter geborene Sänger, Humorist, Komponist und Schauspieler Otto Reutter galt als „Meister des Couplets“ und soll über 1000 dieser vielstrophigen Lieder „witzigen, heiter-humoristischen Inhalts“ (Bemmann 1977, S. 30) im Laufe seines Lebens verfasst haben.
Sein Vater Andreas Pfützenreuter war ein Handlungsreisender und ehemaliger Ulanensoldat aus dem katholischen Eichsfeld, seine Mutter Emilie stammte aus Gardelegen. Auf Wunsch des Vaters sollte der schon als Kind theaterbegeisterte Sohn ebenfalls Kaufmann werden. Er begann nach der einklassigen katholischen Volksschule, die er von 1876 bis 1884 besuchte, eine Kaufmannslehre in Gardelegen, welche er bis 1887 in Worbis und Lychen fortsetzte.
Doch bereits 1887 verließ er mit 17 Jahren seine Heimat und ging nach Berlin, wo er eine erste Statistenrolle in „Fröbels Sommertheater“ erhielt. Das Weihnachtsfest im selben Jahr verbrachte er in einem Obdachlosenheim. Es schlug sich als Bühnenarbeiter, Laufbursche sowie als Statist und Komparse mit kleinen Rollen am American-Theater durch und nannte sich Otto Reuter (damals noch mit einem „t“). Im Jahr 1889 holte der Vater den noch nicht Volljährigen nach Gardelegen zurück.
Es folgten mehrere Jahre in Karlsruhe, in denen er zunächst als Gehilfe eines Buchhändlers ein Auskommen hatte. Er schrieb in dieser Zeit klassische Werke zu Volksstücken um und hatte 1893 sein Debüt „im komischen Fach“ (Volksstimme 2019, s. u. Links) als einer der „Karlsruher Volkssänger“ und später als Mitglied des „Wiener Ensembles“. „Seine frühen Vortragsstücke haben noch die Bezeichnung Lied, Ballade, humoristische Serenade, Tanzcouplet, Kostümcouplet und Schnaderhüpferl.“ (Bemmann 1977, S. 28). Doch bereits in dieser Zeit befasste er sich ernsthaft mit dem Couplet als künstlerischem Ausdrucksmittel mit dem Ziel, „überkommenen humoristischen Vortragsformen“ einen modernen Inhalt mit Bezug zum realen Leben zu geben (vgl. ebd., S. 29).
In einem Radio-Interview im Jahr 1930 erinnerte er sich an diese Zeit: „Der erste Anfang war der, dass ich mit einem Teller kassieren gehen musste. Das habe ich mir nicht lange gefallen lassen, sondern habe bald selbst eine Gesellschaft gegründet, und wir spielten mit 30 und 50 Pfennig Entree. Und wir kamen sehr schnell vorwärts.“ (vgl. Ehrich 2020)
1895 erhielt er sein erstes Auswärts-Engagement in Bern, weitere folgten, u. a. in Dresden, Düsseldorf, Hamburg und Köln. Noch als Otto Reuter begann er damit, Lieder zu verfassen, in denen er das aktuelle Tagesgeschehen direkt verarbeitete, was zur damaligen Zeit eine Sensation war. 1895 wurde mit Der wunderschöne Leopold erstmals eines seiner Couplets beim Verlag Otto Teich (mit der Ortsangabe Dresden) angezeigt. Auf dem Einband wird Otto Reuter als „Gesangshumorist“ bezeichnet (vgl. https://www.otto-reutter.de/index.php/biographie/lebenslauf.html). Zahlreiche weitere Notenausgaben folgten, zunächst bei Otto Teich (Leipzig), aber auch bei verschiedenen anderen Verlagen wie W. Aletter und Paul Fischer (Berlin). Am 1. September 1896 hatte er seinen ersten Auftritt im Apollo-Theater Berlin bei Jaques Glück. Das Gastspiel wurde für einen Monat verlängert, Reuter erhielt eine Gage von 600 Mark.
Im Jahr 1896 heiratete er Olga Teresia Nock in Karlsruhe, kurz danach wurde der Sohn Otto Pfützenreuter geboren, der 1916 auf dem Schlachtfeld von Verdun starb. Nach einem Rechtsstreit mit dem Künstler Martin Reuter fügte er 1897 das zweite „t“ zu seinem Nachnamen hinzu und trat fortan unter dem Namen Otto Reutter auf. Sein einziges Konzert in Gardelegen fand am 25. April 1899 statt, die Einnahmen stiftete er für das Kriegerdenkmal der Stadt.
Otto Reutter war inzwischen ein gefragter Sänger und Humorist und musste sich um Geld keine Gedanken mehr machen. Zu Silvester 1899/1900 trat er erstmals im renommierten Berliner Varietétheater „Wintergarten“ auf, dem er bis an sein Lebensende mit jährlichen Engagements über mehrere Monate treu bleiben sollte und dessen Ruf er mit begründete. Im Jahr 1900 verlegte er zudem seinen Hauptwohnsitz von Karlsruhe nach Berlin. „Mit knapp 30 ist Otto Reutter einer der beliebtesten und bestbezahlten Humoristen Deutschlands. Stets spielt er vor ausverkauftem Haus, sein Terminplan ist auf Jahre im voraus festgelegt, und Schallplattenproduzenten würden alles für ihn tun.“ (Bachmann 1997)
Erste Schallplattenaufnahmen sind im Oktober 1901 nachweisbar, unzählige folgten im Laufe seiner Karriere, teilweise mit Orchesterbegleitung (Grammophon-Studioorchester unter der Leitung von Bruno Seidler-Winkler, später Paul-Godwin-Ensemble), teilweise nur mit Klavier. Auch als Schauspieler betätigte sich Otto Reutter. So drehte er 1911/12 den 6 Minuten langen Kurzfilm „Otto will Schauspieler werden”, in dem er sich selbst spielte. Es folgten „Otto heiratet“ (1914) und „Otto als Dienstmann“ (1915) bei der Targa-Filmgesellschaft, von denen nur Standbilder erhalten sind. In einigen weiteren Filmen hat er möglicherweise mitgewirkt. Ab 1915 Reutter mietete Reutter das Palast-Theater am Zoo in Berlin für fünf Jahre und wurde dessen Direktor.

Bereits 1904 hatte sich Reutter von seiner Frau scheiden lassen, danach sind mehrere Geliebte bekannt. Die uneheliche Tochter Charlotte wurde 1915 geboren, ein weiteres uneheliches Kind nennt er in seinem Testament. Im Januar 1919 heiratete er seine Sekretärin und damalige Geliebte Evi Bendrin. Bereits Ende 1918 hatte er in seiner Heimatstadt Gardelegen die Villa „Waldschnibbe“ gekauft, die er 1929, zwei Jahre vor seinem Tod, wieder verkaufte.
Otto Reutter führte ein rastloses Leben und reiste von Engagement zu Engagement. So wollte er im März 1931 zwei Wochen lang im Apollo-Theater in Düsseldorf gastieren. Doch bereits bei seiner Ankunft Ende Februar klagte er über Unwohlsein. Sein letzter Auftritt fand am 1. März statt, zwei Tage später starb er mit 60 Jahren in einer Düsseldorfer Privatklinik an Herzversagen. Otto Reutter wurde am 7. März desselben Jahres auf eigenen Wunsch in seiner Heimatstadt Gardelegen beerdigt.

Musikhistorische Bedeutung
Seine größten Verdienste erwarb sich Otto Reutter auf dem Gebiet des Couplets. Er verfasste über 1000 dieser Strophenlieder mit markantem, einprägsamem Refrain. Davon sind heute noch etwa 400 nachweisbar. Zu den meisten schrieb der Autodidakt Text und Musik selbst und interpretierte sie auch. In seinen Texten verarbeitete er das aktuelle Tagesgeschehen seiner Zeit auf volkstümliche und humoristische Weise und setzte bei seinen Bühnenauftritten sein schauspielerisches Talent mit ein. Reutter war stets nah am Puls der Zeit, die Texte wurden bei Bedarf aktualisiert und umgedichtet, neue Strophen wurden hinzugefügt. Entscheidend war dabei die pointierte Zuspitzung der inhaltlich in sich abgeschlossenen Strophen auf den jeweiligen Kehrreim. Dabei ergaben sich manchmal sehr viele Strophen. Das Couplet In fünfzig Jahren ist alles vorbei umfasst 16 Strophen (vgl. Teich/Danner Nr. 301), eine weitere gibt es auf Schellackplatte (vgl. https://www.otto-reutter.de/index.php/couplets/texte/223-in-50-jahren-ist-alles-vorbei.html).
Die in der Zeit um den Ersten Weltkrieg entstandenen Reutter-Couplets trugen stark nationalistische und patriotische Züge. Schon Kurt Tucholsky, eigentlich wie Karl Valentin ein glühender Reutter-Verehrer, schrieb dazu 1921 in der Zeitschrift „Die Weltbühne“: „Der Mann hat im Kriege geradezu furchtbare Monstrositäten an Siegesgewißheit von sich gegeben – so die typische Bierbankseligkeit des Hurras, die zu gar nichts verpflichtete, bei der schon das Mitbrüllen genügte.“ (Peter Panter (Kurt Tucholsky), Die Weltbühne, 06.01.1921, Nr. 1, S. 28) An der gleichen Stelle heißt es aber auch: „Ein schlecht rasierter Mann mit Stielaugen, der aussieht wie ein Droschkenkutscher, betritt in einem unmöglichen Frack und ausgelatschten Stiefeln das Podium. Er guckt dämlich ins Publikum und hebt ganz leise, so für sich hin, zu singen an. […] Welch ein Künstler –! Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Pointen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch. Ein Refrain immer besser als der andre – wie muß dieses merkwürdige Gehirn arbeiten, dass es zu jeder lustigen Endzeile immer noch eine neue Situation erfindet. Und was für Situationen!“ (Ebd.)
Viele der Texte sind zeitlos und auch heute noch von universeller Gültigkeit, wie z. B. das um 1928 entstandene Couplet Mit der Uhr in der Hand:
1. Strophe
Wir leb’n in ’ner eiligen, hastigen Zeit
mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.
Der eine, der schiebt heut’ den andern beiseit’
mit der Uhr, mit der Uhr in der Hand.
Wir dräng’n alle vorwärts, ob Hinz oder Kunz,
sind stets außer uns, und wir komm’n nie zu uns,
denn wir werden mit uns ja nur flüchtig bekannt
mit der Uhr, mit der Uhr in der Hand.
Besonders in den 1920er-Jahren entstanden die berühmtesten Couplets, die auch heute noch von Künstlern wie Walter Plathe, Ivo Zöllner, Meigl Hoffmann, Hanns Buschmann, Roswitha Goos oder Robert Kreis im Rahmen von Reutter-Abenden interpretiert werden. Dazu gehören Der Überzieher, In fünfzig Jahren ist alles vorbei und Nehm’n Se ‘n Alten. Die späten Couplets sind nachdenklicher und „mit melancholisch-skeptischem Blick auf die Menschen und die Zeiten“ (Bemmann 2003), darunter Mit der Uhr in der Hand (s. o.) und das 1930 entstandene Wir lieb‘n uns zu sehr. So galt Otto Reutter schon zu Lebzeiten als „Philosoph unter den Humoristen“ (ebd.).
„Reutter hat, wie seine Lieblingsautoren Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Fritz Reuter und Wilhelm Busch, einen Hang zum ‚realistischen Philosophieren‘[,] zum maßvollen Räsonieren über den Lauf der Welt, und so entstehen Texte aus dem Beobachten der kleinen und großen Dinge.“ (Bachmann 1997)
Im Jahr 1925 trat Otto Reutter auch im Walhalla-Theater in Halle (Saale) auf, dem heutigen Steintor-Varieté (https://www.halle-entdecken.de/wissenswertes/chronik-halle-saale/chronik-halle-saale-1900-1950.html). Seine Geburtsstadt Gardelegen setzte ihm 2002 in der Ernst-Thälmann-Straße ein Denkmal, geschaffen von dem renommierten Magdeburger Bildhauer Heinrich Apel. Am Rande des Holzmarktes befindet sich ein Otto-Reutter-Brunnen. Reutters Grabstätte auf dem städtischen Friedhof ist frei zugänglich. Des Weiteren gibt es einen Otto-Reutter-Platz mit einem Gedenkstein. Sein Geburtshaus in der Sandstraße in Gardelegen wurde 1961 abgerissen. Eine Gedenktafel am ehemaligen Standort erinnert daran.

Werke (Auswahl)
(Die Jahreszahlen ergeben sich aus dem jeweiligen Veröffentlichungsdatum auf Schellackplatte.)
Ick wundre mir über jarnischt mehr (1917/18)
In fünfzig Jahren ist alles vorbei (Oktober 1920)
Der gewissenhafte Maurer (Oktober 1920)
Der Überzieher (Oktober 1925)
Der Blusenkauf (ca. November 1926)
Nehm’n Se ‘n Alten (ca. Nov. 1926)
Alles weg‘n de Leut‘ (ca. Nov. 1926)
Mit der Uhr in der Hand (ca. Juni 1928)
Bevor du sterbst (ca. Juni 1928)
Eine ausführliche Couplet-Liste, die sich an den Veröffentlichungslisten der Verlage Danner und Teich orientiert, findet sich unter https://www.otto-reutter.de/index.php/couplets/couplet-liste.html.
Klangbeispiele
Ick wundere mir über jarnischt mehr, Otto Reutter mit Paul-Godwin Ensemble auf Schellackplatte (Schmonzetten, Schmäh und Parodie. Wort- und Tondichtungen des frühen 20. Jahrhunderts aus den Beständen des Deutschen Musikarchivs der Deutschen Nationalbibliothek)
Otto Reutter, ganzes AMIGA-Album, Interpret: Otto Reutter
Otto Reutter – In 50 Jahren ist alles vorbei, Interpret: Otto Reutter, 1930 Wintergarten Berlin
Otto Reutter- Der Blusenkauf, Interpreten: Meigl Hoffmann (Gesang) und Karsten Wolf (Klavier)
Nehm’n Se ‘n Alten, Hanns Buschmann singt ein Couplet des großen Berliner Vortragskünstlers Otto Reutter im Rahmen eines Otto-Reutter-Abends im Kölner „Senftöpfchen” 2014, Begleitung: Joe Buschmann (Klavier), Michael Buschmann (Schlagzeug)
Jörg Gfrörer – Corona Couplet Otto Reutter, Corona-Version von In fünfzig Jahren ist alles vorbei aus dem Jahr 2020
Noten
Ein Otto-Reutter-Album mit zehn frühen Couplets (Band 13, Verlag Otto Teich, Leipzig, ca.1909) sowie eine zeitgenössische Ausgabe von Lass’ sie sausen! gibt es zum kostenlosen Download in der Petrucci Music Library unter https://imslp.org/wiki/Category:Reutter,_Otto.

Literatur
Clarissa Bachmann, Otto Reutter hat über 1000 Couplets geschrieben. Bis heute ist er das große Vorbild der Kleinkunst geblieben: Von der Grazie eines Fettbauches, in: Berliner Zeitung vom 14.06.1997, https://www.berliner-zeitung.de/otto-reutter-hat-ueber-1-000-couplets-geschrieben-bis-heute-ist-er-das-grosse-vorbild-der-kleinkunst-geblieben-von-der-grazie-eines-fettbauches-li.8076, abgerufen am 28. März 2023.
Helga Bemmann, Ich wundre mir über jarnischt mehr. Eine Otto-Reutter-Biographie, Berlin 1977.
Helga Bemmann, „Reutter, Otto”, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 473–474 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118600028.html#ndbcontent.
Florian Ehrich, Otto Reutter vor 150 Jahren geboren, Deutschlandfunk, 24.04.2020, https://www.deutschlandfunk.de/der-koenig-der-humoristen-otto-reutter-vor-150-jahren-102.html, abgerufen am 27.04.2023.
Links
Website über Otto Reutter mit vielen Informationen und Tonaufnahmen, von Robert Ostermeyer
MDR 24.04.1870: Otto Reuter geboren, Ein Kalenderblatt von Sven Hecker
„Tot wird Reutter niemals sein“, Volksstimme, 26.07.2019
Otto Reutter: Ein Denkmal wird 20, von Rupert Kaiser
Materialien zum Download
Arbeitsblatt (PDF):
Komponistenpersönlichkeiten in Sachsen-Anhalt (Schüler-Arbeitsblatt im Word-Format für Lehrer*innen auf dem Landesbildungsserver)
SM 2023