Komponist*innen

Reinhard, August (1831–1912)

* 27. November 1831 in Ballenstedt, † 27. November 1912 ebd.

Aus: „Das Harmonium. Zeitschrift für Harmonium-Spiel, -Bau und -Literatur”. Weimar, 1900, 1. Jahrgang, No. 2

Biografie

August Reinhard wuchs in der Residenzstadt Ballenstedt im heutigen Landkreis Harz auf. Geprägt wurde das kulturelle Leben dort vom Hof des Herzogs von Anhalt-Bernburg und dem bereits im Jahr 1788 eingeweihten Schlosstheater, an dem bis zu seinem Tod 1797 der Komponist Carl Christian Agthe als Hoforganist und Hofcembalist wirkte. Reinhards musikalische Entwicklung vollzog sich unter dem Einfluss des höfisch-musikalischen Umfeldes in seiner Heimatstadt mit Konzerten, Opernaufführungen und Kontakten zu Hofmusikern.

Im Jahr 1850 trat er eine Stelle als Lehrer an der von Carl Brinckmeier neu gegründeten ersten „Höheren Schule“ in Ballenstedt an. Die Brinckmeier’sche Lehranstalt (heute das Wolterstorff-Gymnasium) war auch als „Prinzenschule“ bekannt, da dort die vier ältesten Söhne des Fürsten von Wittgenstein unterrichtet wurden. 1854 wurde Reinhard vom Fürsten als Privatlehrer für einen seiner Söhne engagiert und kehrte erst 1868 nach Ballenstedt zurück.

Im Jahr 1877 gab August Reinhard im Verlag Carl Simon (Berlin) eine Harmonium-Schule heraus, nachdem er auf einer seiner Studienreisen mit dem Prinzen erstmalig mit dem Instrument in Berührung gekommen war, was für ihn zu einer Art Schlüsselerlebnis wurde. Zu Reinhards Lebzeiten erreichte die Schule bereits eine Auflage von 40 000 Exemplaren. Sie ist als Standardwerk auch heute noch erhältlich (B-Note Musikverlag, s. Link unten).

Nachdem Reinhard 1888 aus gesundheitlichen Gründen den Lehrerberuf aufgeben musste, widmete er sich ganz der Musik, insbesondere dem Harmonium als einem seiner Ansicht nach unterschätzten Instrument, mit dem er selbst öffentlich auftrat und für das er komponierte und arrangierte.

August Reinhard verstarb im November 1912 an seinem 81. Geburtstag.

Musikhistorische Bedeutung

August Reinhard hatte erstmalig in Dresden bei einem Besuch des Akustische Kabinetts von F. Kaufmann & Sohn auf einem Druckwindharmonium gespielt. Von da an wurde es zu seinem lebenslangen Anliegen, das schlechte Image des Instrumentes, das einherging mit der überwiegenden Nutzung als billiger Orgel-Ersatz, zu verbessern und dessen Eigenständigkeit als Konzertinstrument zu propagieren.

In der Vorrede zur Harmonium-Schule op. 16  schreibt er: „Obgleich das Harmonium unter den musikalischen Instrumenten, welche geeignet sind, die Gefühls- und Ideenwelt des schaffenden und ausübenden Künstlers zu offenbaren, eine hervorragende Stelle einnimmt, hat es doch bis heute gerade unter den besten Musikern die wenigsten Kenner und Freunde. Es ist eine auffallende Thatsache, dass fast alle guten Lehrbücher der Musik _ eine Ausnahme macht Hector Berlioz in seiner trefflichen Instrumentationslehre _  […] das Harmonium gänzlich ignoriren, und dass es musikalische Lehranstalten giebt, welche für das Studium des Harmoniumspiels keine Stunde übrig haben.“ (Reinhard 1906)

Mit seiner Harmonium-Schule versuchte er der verbreiteten Ansicht entgegenzutreten, das Spielen des Harmoniums „sei leicht zu erlernen“ und man brauche dazu „nur geringe Fertigkeit im Klavierspiel“ (Reinhard 1895, S. 10). „Ich meine nämlich, dass das kunstgemässe Harmoniumspiel ebenso gewiss ein ernstes Studium erfordert als die Behandlung irgend eines Instruments im Bereiche der Tonkunst.“ (Ebd., S. 11)

Harmonium-Schule op. 16 (Volksausgabe 1906)

 

Eine bessere Kenntnis der Funktionsweise sowie ein dem Harmonium angemessenes Repertoire sollten nach Reinhards Ansicht dazu beitragen, die beobachteten Defizite in Akzeptanz und Ansehen zu überwinden und die in mancherlei Hinsicht gegebenen Vorzüge des Instruments gegenüber Orgel und Klavier hervorzuheben.

„Während jedoch beim Pianoforte die Töne durch Metallsaiten, bei der Orgel durch Pfeifen hervorgebracht werden, entstehen diejenigen des Harmoniums durch Metallzungen, welche ein Luftstrom in Schwingungen versetzt.“ (Reinhard 1906) Durch die Art des Tretens der Schöpfpedale (Tretschemel), die die Schöpfbälge betätigen, kann der Spieler / die Spielerin mit den Füßen die Tonstärke beeinflussen (Expressions-Vorrichtung) und somit ein breites dynamische Spektrum abdecken, was bei der Orgel so nicht möglich ist. Im Gegensatz zum Pianoforte können zudem die Töne beliebig lang ausgehalten werden. Das in den USA entstandene Saugwindharmonium (meist ohne Expressions-Register) ist wesentlich einfacher und billiger gehalten, erreichte aber Ende des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert hinein auch in Deutschland große Verbreitung als „Masseninstrument“ und Orgel-Ersatz. August Reinhard setzte sich ausdrücklich für das Druckwindharmonium ein, aus dem sich das noch weiter differenzierte Kunstharmonium mit Doppel-Expression entwickelte (Näheres zur Funktionsweise des Harmoniums u. a. hier) .

Es ging Reinhard jedoch nicht darum, Orgel, Pianoforte und Harmonium gegeneinander auszuspielen.  Gerade im Klavier sah er die ideale Ergänzung zum Klang des Harmoniums. „Die charakteristischen Unterschiede beider Instrumente vereinigen sich alsdann, um den wohlthuendsten Eindruck auf den Hörer zu machen, ähnlich demjenigen, den die Verbindung des Streichchors mit dem Holzbläserchor des Orchesters hervorbringt.“ (Reinhard 1906) So komponierte er neben Solowerken für Harmonium auch zahlreiche Werke für Harmonium und Klavier sowie Kammermusik mit Harmonium.

Nach einem Rückgang der Popularität des Harmoniums im 20. Jahrhundert geriet August Reinhard in Vergessenheit. Heute zeichnet sich wieder ein gestiegenes Interesse an seinem Werk ab und viele seiner Kompositionen sind bei unterschiedlichen Verlagen erhältlich (besonders B-Note Musikverlag).

Sonate für Harmonium und Klavier in C, op. 84 (1900), Anfang

Werke

(Auswahl nach Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/August_Reinhard, abgerufen am 11.01.2023)

24 Praeludien zum Gebrauch beim Gottesdienste für Harmonium (auch für Orgel) op. 12
Zwanzig Harmonium-Studien (ein Supplement zu jeder Harmonium-Schule) op. 13
Harmonium-Schule op. 16
Drei Duos. Stücke für Harmonium und Pianoforte (Anhang zur Harmonium-Schule) op. 16 a
Sechs kleine Duos für Harmonium und Klavier op. 26
Erstes Trio für Violoncell (Violine), Harmonium und Klavier, F-Dur, op. 28
Zweites Trio für Violoncell (Violine), Harmonium und Klavier, f-Moll, op. 30
50 kurze und leichte Choralvorspiele für Harmonium op. 34
Drei Sonatinen für Harmonium op. 38

Der Organist und Harmoniumspieler Matthias Müller, Gründer und Organisator des Rühlmannorgel-Festivals in Sachsen-Anhalt, betreibt in Ostfriesland eine Fachwerkstatt für Reparatur und Restaurierung von Orgeln und Harmoniums. Seine umfangreiche Sammlung von Originalnoten für Harmonium enthält auch in großem Umfang (60 bis 70 Bände) Werke von August Reinhard (http://www.harmoniumservice.eu/partitures.html).

Klangbeispiele

August Reinhard: Sonate für Harmonium & Klavier in C, op.84, 1900, Adagio & Allegro-Finale, Marie-Noëlle Bette-Leroy & Joris Verdin

CDs:

August Reinhard: Kammermusik & Sonatinen, Joris Verdin (Harmonium), Marie-Noëlle Bette (Klavier), Tine van Parys (Cello), 2020 (jpc, mit Hörbeispielen)

Harmonium 4.0 – Soundscapes – , Gerhard Noetzel (Harmonium), Kompetenzzentrum für Orgel und Harmonium Groß Germersleben (jpc, mit Hörbeispielen)

Noten

Zahlreiche Werke von August Reinhard finden sich in der Petrucci Music Library zum kostenlosen Download hier.

Literatur

August Reinhard, Harmonium-Schule op. 16 (Volksausgabe), Carl Simon Musikverlag, Berlin 1906.

August Reinhard, Etwas vom Harmonium (Aus Briefen von A. Reinhard an Konzertmeister S. in D.). Ein Beitrag zur Erklärung des Wesens des Harmoniums. Aus dem Sonntagsblatt des „Reichsboten” vom 16. und 23. Dezember 1894 mit Genehmigung des Herrn Verfassers, Carl Simon Musikverlag, Berlin 1895, https://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/download2.html?litID=lit38232&pn=1, abgerufen am 18.01.2023.

Links

August Reinhard im B-Note Musikverlag

SWR2 Musikstunde, Das Harmonium – Choralpumpe, Psalmenquetsche, Hundert-Franken-Orgel?, von Jan Ritterstaedt, 2020

Materialien zum Download

Arbeitsblatt (PDF):

Komponistenpersönlichkeiten in Sachsen-Anhalt (Schüler-Arbeitsblatt im Word-Format für Lehrer*innen auf dem Landesbildungsserver)

SM 2023