* 13. Juni 1834 in Quedlinburg, † 10. Januar 1899 in Berlin

Biografie
Albert Becker entstammte einer angesehenen Quedlinburger Familie: Sein Großvater, Friedrich Albert Gerhard Becker, war klassischer Philologe und Pastor an der St. Aegidii-Kirche, der sich auch als Übersetzer der griechischen Klassik einen Namen gemacht hatte. Der Vater, Theodor Albert Becker, war Buchhändler und Druckereibesitzer.

Als Kind erhielt er seine musikalische Ausbildung bei dem Organisten Hermann Bönicke (1821–1879), dem er zeitlebens verbunden und dankbar war. Becker sollte nach dem Wunsch seiner pietistisch eingestellten Mutter Pfarrer werden. Aber nach dem Abitur erklärte er ihr, dass er kein guter Theologe werden, jedoch auch durch seine Musik Gottes Wort verkünden könnte. So studierte er von 1853 bis 1856 Komposition bei Siegfried Wilhelm Dehn (1799–1858) und trat 1854 in die Sing-Akademie zu Berlin ein, den bedeutendsten Chor der damaligen Berliner Musikszene, in dem auch Bismarck als Bass und Lortzing als Tenor sangen.

Im Jahr 1861 erhielt Beckers Symphonie in g-Moll bei einem Symphoniewettbewerb der Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien den zweiten Preis. Im Jahre 1875 heiratete er Magdalene Radtke (* 1853), mit der er fünf Kinder hatte. Am bekanntesten wurde seine Tochter Maria Magdalene, die Mutter des Komponisten Günter Raphael (1878–1960).
1877 entstanden mehrere Lieder nach Gedichten des Quedlinburger Heimatdichters Julius Wolff (1834–1910), mit dem Becker von Kind an befreundet war, u. a. aus „Der Rattenfänger von Hameln“ und „Der wilde Jäger“. Diese Lieder wurden gern von den Gesangsvereinen gesungen, so auch vom Quedlinburger Männergesangsverein, dem Vorgänger des heutigen „Fritz-Prieß-Chores“ in Quedlinburg.
Beckers Durchbruch zur Bekanntheit und späteren Berühmtheit erfolgte mit der Großen Messe in b-Moll, einer Auftragsarbeit von 1878 zum 25. Jubiläum des von Carl Riedel gegründeten und geleiteten Chores (Riedel-Verein) in Leipzig. Die Aufführung der Messe durch die Sing-Akademie im Februar 1881 unter der Leitung von Prof. Martin Blumner brachte ihm ein paar Jahre später den Titel eines königlichen Professors ein. 1881 wurde Albert Becker Kompositionslehrer am Scharwenka-Konservatorium in Berlin und lehrte bis an sein Lebensende Gesang am Falk-Gymnasium. 1883 schrieb er eine Reformationskantate zu Luthers 400. Geburtstag.
Ab 1884 wirkte Becker als Kompositionslehrer an der Akademie der Künste und war Mitglied ihres Senats. Sein berühmtester Schüler war Jean Sibelius, den er von 1889 bis 1890 in Kontrapunkt unterrichtete. Auch der spätere Thomaskantor Karl Straube zählte zu seinen Schülern sowie sein Schwiegersohn, Kantor und Organist Georg Raphael (1865–1904), der Vater des Komponisten Günter Raphael. 1889 übernahm Becker die Leitung des Königlichen Domchores in Berlin (heute Staats- und Domchor Berlin). 1892 wurde er zum Thomaskantor berufen. Kaiser Wilhelm II. aber akzeptierte Beckers Entlassungsgesuch nicht, veranlasste eine Gehaltserhöhung und verlieh ihm den preußischen Kronenorden 3. Klasse.
Am 10. Januar 1899 ist Albert Becker in Berlin gestorben.

Musikhistorische Bedeutung
Albert Becker wirkte als Komponist, Musikprofessor und Chordirigent in Berlin. Eng mit seinem Leben ist die Entwicklung der Sing-Akademie als bürgerlicher Gegenpol zum Königlichen Domchor verknüpft, der 1843 von König Friedrich Wilhelm IV. wiederbegründet wurde. Albert Becker war seit seiner Studienzeit Mitglied der Sing-Akademie, neben ihm sangen dort u. a. der spätere Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck (s. o.), der Komponist Peter Cornelius und der Bachforscher Wilhelm Rust. Die von Carl Friedrich Zelter begonnene, von Felix Mendelssohn Bartholdy maßgeblich vorangetriebene Bach-Renaissance durch die Sing-Akademie – verknüpft beispielsweise mit der ersten Wiederaufführung der Matthäuspassion – scheint auch unmittelbar auf den Komponisten Albert Becker gewirkt zu haben. Stehen seine ersten Werke (u. a. Symphonie g-Moll) noch unter dem Einfluss seiner Ausbildung bei Dehn, so zeigt sein kirchenmusikalischer Stil in der starken Konzentration auf Kontrapunktik und in dem Rückgriff auf alte Formen den Bezug zum Schaffen Bachs auf. Die Bewerbung Beckers auf das Thomaskantorat 1879 bestätigt, dass er konkret diese Hinwendung suchte.
Als Musikprofessor an der Berliner Akademie der Künste konzentrierte sich Becker auf die Vermittlung kontrapunktischer Prinzipien. Zu seinem wichtigsten Schüler gehörte dort Jean Sibelius.

Die Übernahme der Leitung des Königlichen Domchores 1889 markiert Beckers Wechsel in den Dienst der Kirchenmusik. Mit der Gründung bzw. Reorganisation des Domchores durch König Friedrich Wilhelm IV. war bereits 1843 die Hoffnung verknüpft, eine qualitative Verbesserung der Kirchenmusik im Berliner Dom zu erreichen. Albert Becker stand dafür ein Ensemble zur Verfügung, das mehr als 100 Knaben und Männer umfasste. Neben den Aufgaben eines Chorleiters oblag Albert Becker die Prägung und Ausgestaltung der Liturgie. Eine Vielzahl von chorischen Motetten, viele davon doppelchörig, zeugen von der Akribie, mit der Albert Becker diese Aufgabe erfüllte. Für die große Klangentfaltung nutzte Becker dabei eine stark deklamatorische Schreibweise.
Im Kontrast zur alltäglichen Arbeit, der Schaffung neuer Motetten auf Grundlage der Evangelien- oder Episteltexte, stehen die Kompositionen großer Oratorien und Messen. Für die Reformationsfeier 1883 komponierte Albert Becker mit der Reformationskantate sein umfassendstes und wahrscheinlich dichtestes Oratorium. Steht die Einleitung im Gestus einer Ouvertüre Händels, so zeichnet den zweiten Teil ein strenges Fugato für acht Stimmen aus. Von lyrischer Anmut sind die beiden Solo-Arien für Sopran, während die Rezitative von einer dramatischen Schärfe gezeichnet werden, die der Textierung des Chorals Ein feste Burg ist unser Gott folgt. In der Behandlung des Chorals nimmt Albert Becker die Bach‘schen Choralkantaten zum Vorbild. Dieser Linie folgen auch das Kirchenoratorium Selig aus Gnade und die Choralkantate Erhalt uns Herr bei Deinem Wort.
Dem gegenüber steht mit der Großen Messe in b-Moll op. 16 ein Werk, in dem sich Albert Becker schon in der Widmung an Franz Liszt als Vertreter der neudeutschen Schule zu erkennen gibt. In der Harmonik bricht Albert Becker bei diesem Werk, das bereits in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstand, aus dem Nach-Mendelssohn‘schen-Stil aus.
Dass Beckers kammermusikalische Werke von der Nachwelt weitgehend ignoriert werden, liegt vielleicht in der schon zu Lebzeiten starken Würdigung Beckers als Chorleiter und Komponist von Chormusik. In der Tat liegt jedoch in Anbetracht seines Schaffens hierin ein weiterer Schwerpunkt, denn Albert Becker hat sich bis in die 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts hinein vor allen Dingen als Komponist kammermusikalischer und sinfonischer Musik etabliert. Seine Sinfonie g-Moll wurde dabei ebenso ausgezeichnet wie sein Konzertstück op. 66 für Violine und Orchester. Gerade seine kammermusikalischen Werke für Orgel und Soloinstrumente verdienen eine stärkere Betrachtung, zumal die Alternativen in diesem Repertoirebereich rar gesät sind.

Wurde Albert Becker spätestens mit der Renaissance der Alten Musik ab Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts ein zunehmend selten gehörter Komponist, so setzt seit den 1990er-Jahren ein neues Bewusstsein für die Klangschönheit seines Werkes ein. Die Edition vieler Motetten durch den Berliner Chormusik-Verlag sowie den Carus Verlag vermögen das Werk wieder greifbarer zu machen, obgleich eine neue Herausgabe der großbesetzten Werke weiterhin Wunschdenken bleibt. Insbesondere der Reformations-Kantate und der Großen Messe b-Moll wären als wichtige und singuläre Vertreter der protestantischen Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr Wiederaufführungen zu wünschen, auch wenn die Einstudierung der Chöre ein ambitioniertes – dafür aber lohnendes(!) Unterfangen darstellt.

Werke
Zu seinen bekanntesten Werken zählen:
- g-Moll-Sinfonie (1858, ohne Opus-Nr.), für die er 1861 vom Verein der Wiener Musikfreunde ausgezeichnet wurde
- verschiedene Liederzyklen, in denen er Gedichte seines langjährigen Freundes Julius Wolff vertonte, zum Beispiel aus „Der Rattenfänger von Hameln“ (1877, Opus 13) und aus dem Epos “Der wilde Jäger” (1878, Opus 14)
- Vertonung von Liedern aus der Jenaer Liederhandschrift, einer mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung aus dem 14. Jh.
- die Große Messe b-Moll (1878, Opus 16)
- die Reformations-Kantate (1883, Opus 28) anlässlich des 400. Geburtstages von Martin Luther
- das Kirchenoratorium Selig aus Gnade (1888, Opus 61), ein geistlicher Dialog aus dem 16. Jahrhundert für Altsolo, Chor und Orgel
- der Weihegesang nach Worten der Heiligen Schrift (1894, Opus 74) zur Feier der Grundsteinlegung für den Dom zu Berlin
- das Chorwerk Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze (1898, Opus 85, Nr. 4)
- Die Oper Lurlei („Loreley“, 1898 vollendet, ohne Opus-Nr.), liegt bis heute als Particell (erweiterter Klavierauszug) vor und wartet auf eine Bearbeitung, um aufgeführt zu werden.
Werksliste unter: https://imslp.org/wiki/List_of_works_by_Albert_Becker
Bekannte Aufführungen bedeutender Werke (Auswahl):

Klangbeispiele
Adagio, op. 80 (Boris Barinov/Viola, Mikhail Mishchenko/Orgel)
Bleibe, Abend will es werden (Sofia Vokalensemble)
Erquicke mich mit deinem Licht (Corona Vocalis)
Hilf mir, Gott (Mixtura Cantorum, Mai 2015 in Wechterswinkel)
Ich gedenke der alten Zeit (Psalm 77) (sirventes berlin unter der Leitung von Stefan Schuck im NoonSong am 12.5.2018 in der Kirche Am Hohenzollernplatz Berlin)
Sehet, welch eine Liebe (Cantamus Gießen)
Reformationskantate – Schlusschor, Allegro (Quedlinburger Oratorienchor, Extra-Chor der Hochschule für Kirchenmusik Dresden und Orchester musica juventa, Halle/S.)
Literatur
SL/Adam Adrio, Art. „Becker, Albert“, in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1999, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/19118.
Stefan Altner, Das Thomaskantorat im 19. Jahrhundert. Bewerber und Kandidaten für das Leipziger Thomaskantorat in den Jahren 1842 bis 1918. Quellenstudien zur Entwicklung des Thomaskantorats und des Thomanerchors vom Wegfall der öffentlichen Singumgänge 1837 bis zur ersten Auslandsreise 1920, Passage-Verlag, Leipzig 2006.
Robert Eitner, Art. „Becker, Albert“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 309, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Becker,_Albert&oldid=- (Version vom 4. Mai 2020, 13:06 Uhr UTC).
Noten
Noten von Albert Becker zum kostenlosen Download in der Petrucci Music Library/IMSLP
Albert Becker im Sonat-Verlag (ehemals Berliner Chormusik Verlag)
Werke von Albert Becker im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Albert Becker in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Links
Nachlass u. a. von Albert Becker im Archiv der Christine Raphael Stiftung zur Förderung des Günter Raphael Gesamtwerkes:
https://stiftungsarchive.de/archive/7229

Anregungen für den Unterricht
Beckers Kindheitsorte im heutigen Quedlinburger Stadtbild aufsuchen:
- Umgebung des ehemaligen Geburtshauses, Breite Straße 29, jetzt Grabengasse 9
- späteres Wohnhaus der Familie, Breite Straße 37
- Geburtshaus seines Freundes, des Schriftstellers Julius Wolff, Markt 8/9 (Hotel zum Bär)
- Geburtshaus seines Freundes, des preußischen Kultusministers Robert Bosse, Klink 10
- Aegidii-Kirche, die Kirche, in der Alberts Großvater wirkte
- Benedikti-Marktkirche, das Haus in der Breiten Straße 37 gehörte zur Marktkirchgemeinde
- Kapelle des ehemaligen Franziskanerklosters (Gymnasium von 1540–1888, das Albert Becker besuchte)
Bildergalerie
(Zum Vergrößern Fotos anklicken)
Fotos: Hoberg
Materialien zum Download
Festschrift 35 Jahre Quedlinburger Musiksommer
Arbeitsblatt (PDF):
Komponistenpersönlichkeiten in Sachsen-Anhalt (Schüler-Arbeitsblatt im Word-Format für Lehrer*innen auf dem Landesbildungsserver)
Hoberg / Kaufmann / Meister 2020