Instrumente

Walcker-Orgel mit Organola in der Kirche St. Anna Dieskau

Die Walcker-Orgel mit Organola in der Kirche St. Anna in Dieskau

Orgelbauer

Eberhard Friedrich Walcker (1794–1872) war einer der bedeutendsten Orgelbauer Süddeutschlands und Gründer der noch heute in zwei Nachfolge-Firmen existierenden Orgelbau-Firma E. F. Walcker & Cie. in Ludwigsburg. In seiner Werkstatt entstanden laut Opuszählung zu seiner Schaffenszeit weltweit 266 Orgeln, darunter die Orgel der Paulskirche in Frankfurt a. M. sowie Orgeln in St. Petersburg, Reval (heute Talinn) und Boston.

Im Jahr 1916, dem Baujahr der Dieskauer Orgel, wurde die Firma Walcker von Eberhard Friedrichs Enkel Oscar Walcker geleitet, der auch die Orgelbaufirma Sauer in Frankfurt/Oder übernahm. Seine bekanntesten Orgeln sind die der Reinoldikirche in Dortmund und der St. Michaeliskirche in Hamburg.

Orgelgeschichte

Die Kirche St. Anna in Dieskau

 

1750 wurde in der Kirche St. Anna, einem barocken Neubau als Nachfolger eines zerstörten romanischen Vorgängerbaus, als erste Orgel ein Instrument von dem in Halle geborenen Orgelbauer Heinrich Andreas Contius (auch Cuntius) eingeweiht. In deren historischem Prospekt befindet sich heute die im Jahr 1916 von der Ludwigsburger Firma Walcker gebaute Orgel mit Organola. Eine Organola ist eine mechanische Vorrichtung, mit deren Hilfe eine Orgel über Notenrollen automatisch bespielbar ist, ohne dass ein Organist die Tasten bedienen muss.

Nach einem Kirchenbrand im Jahr 1931, der die Contius-Orgel zerstört hatte (nur der Prospekt wurde gerettet), kaufte die Gemeinde Orgel und Organola für 6500 Reichsmark der halleschen Fabrikantenfamilie Herbst ab, in deren Bäckereimaschinenfabrik das Instrument ursprünglich stand. In der Fabrik gab es einen Salon, für den die Chefin des Hauses Orgel und Organola in Auftrag gegeben hatte. Ein derartiges Instrument sollte den Arbeitern in der Fabrik zur Erbauung dienen und bediente gleichermaßen den zeittypischen Hang zum technischen Fortschritt wie die Notwendigkeit, auch ohne einen ständig zur Verfügung stehenden Organisten recht anspruchsvolle Musik darbieten zu können.

Nachdem der langjährige Pfarrer der Dieskauer Kirche, Günther Baumgarten, im Jahr 1987 zufällig unter der Turmhaube zwischen Müll und Unrat gelochte Papierstreifen und Holzrollen gefunden hatte, ohne etwas damit anfangen zu können, brachte ein Einbruch in den Spieltisch der Orgel im Jahr 1994 die Erkenntnis, dass die Lochstreifen zur Mechanik der Organola gehören. Deren Existenz war wohl in Vergessenheit geraten, da die Orgel ja auch manuell bespielbar ist. Eine umfangreiche Restaurierung der Organola durch den Beesenstedter Uhrmacher und Antriebsrestaurator Helmut Ebert machte diese wieder funktionsfähig. Die Dieskauer Organola ist nach jetzigem Erkenntnisstand das einzige derartige Instrument in Ostdeutschland.

Walcker-Organola in Dieskau

Technische Ausstattung

(Die unterstrichenen Begriffe finden sich im Orgelglossar.)

Die Walcker-Orgel in St. Anna hat 15 Register, zwei Manuale und Pedal. Es handelt sich hier um ein pneumatisches Taschenladensystem. Die Disposition und weitere technische Details finden sich hier.

Eine technische Besonderheit ist die eingebaute Organola, welche die Firma Walcker & Cie. unter diesem Namen im Jahr 1904 zum Patent angemeldet hat. Die Organola verwendet den in der Orgel vorhandenen Druckwind und ist an die pneumatische Traktur des Hauptmanuals der Orgel angeschlossen.

Die „Noten“ ganzer Musikstücke finden sich auf Papierrollen mit Löchern (Lochstreifen), die in den Apparat, der sich über dem Spieltisch befindet, eingespannt werden. Lediglich die Registrierung und das Tempo, in dem sich die Rolle drehen soll, müssen manuell vorgegeben werden. 25 derartige Notenrollen fand Pfarrer Baumgarten im Turm. Auf ihnen lassen sich Einspielungen namhafter Organisten festhalten. So soll beispielsweise der Arzt und Gründer des Urwaldhospitals im afrikanischen Lambarene, Albert Schweitzer, für die Firma Walcker Lochstreifen bespielt haben.

Literatur

Bernhard Häberle, “Die Organola von Walcker, ein halbautomatischer Orgelspielapparat”, in: Das Mechanische Musikinstrument. Journal der Gesellschaft für Selbstspielende Musikinstrumente e. V., Ausgabe Nr. 116, April 2013, S. 7–38, https://www.musica-mechanica.de/media/PDF/Organola_von_Walcker.pdf, abgerufen am 19.03.2021.

Links

Walcker-Orgel mit Organola (mit Disposition)

Dieskau – Schlosskirche St. Anna (Orgel Verzeichnis – Orgelarchiv Schmidt)

Automat statt Organist (Audio-Bericht vom Bayerischen Rundfunk über eine moderne Organola)

Kirchenkreis Halle-Saalkreis

Anregungen für den Unterricht

Ein Besuch der Kirche St. Anna in Dieskau könnte unter folgenden Aufgabenstellungen vorbereitet werden:

Welche Stücke finden sich auf den Dieskauer Notenrollen? – Werden sie noch abgespielt und zu welcher Gelegenheit? – Welche Vor- und Nachteile hat eine halbautomatische Musikwiedergabe von Orgelmusik? – In einem MZ-Artikel aus dem Jahr 2010 wird die Organola als „Vorläufer des MP-3-Players“ beschrieben. Wo liegen hier die Parallelen?

Erweiterung des Themas: Mechanische Instrumente in Sachsen-Anhalt

Mechanische Instrumente gibt es seit der Antike. Sie genügen bestimmten zeittypischen Erfordernissen und Bedürfnissen, besonders zu Beginn des technischen Zeitalters Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit Einzug des elektronischen Schallplattenspielers in die Musikbranche brach ab etwa 1930 die Industrie der mechanischen Musikinstrumente zusammen.

In der Musikinstrumentenausstellung des Händel-Hauses in Halle finden sich einige Musikautomaten aus verschiedenen Epochen.

Auch Georg Friedrich Händel schrieb Musik für eine Spieluhr. Ein kurzer Ausschnitt daraus erklingt bisweilen auf dem Marktplatz in Halle, intoniert vom Carillon im Roten Turm. Ein zweistimmige Notenbeispiel aus Händels ursprünglich für eine Spieluhr geschriebenen Stücken (Download s. u.) kann im Unterricht nachgespielt werden (Blockföten, Violinen oder andere Melodieninstrumente).

Wilhelm Friedemann Bach komponierte 18 Stücke für eine Spieluhr (BR-WFB A 63–80) für das Musikwerk einer Spieluhr (Harfenuhr), die sich einstmals im Köthener Schloss befunden haben soll. Die Stücke wurden zunächst Johann Sebastian Bach zugeschrieben und von August Klughardt 1897 bei Breitkopf & Härtel für Klavier herausgegeben (Notenbeispiel zum Download s. u.).

Klangbeispiele

Klangbeispiele für Flötenuhren (Blütezeit im ausgehenden 18. Jh.) mit Stiftwalzen, u. a. mit Originalkompositionen von C. Ph. E. Bach, Haydn, Mozart und Beethoven, finden sich hier.

Noten zum Download

Georg Friedrich Händel, Air a-Moll HWV 604

Wilhelm Friedemann Bach, 18 Stücke für eine Spieluhr

Video (Link)

Die Orgel – ungewohnte Einblicke in das Instrument des Jahres 2021
Das anschauliche Video von KMD Martina Pohl und Ulrike Großhennig bietet Schüler*innen die Möglichkeit, am Beispiel der Hildebrandt-Orgel in Sangerhausen in das Innere einer Orgel zu schauen, die Funktionsweise kennenzulernen, Fragen zu stellen und sich Detailwissen anzueignen. Das Video ist für schulische Zwecke genauso geeignet wie für Interessierte an diesem einzigartigen Instrument.

Materialien zum Download

Powerpoint-Präsentation:

Von der Taste zum Ton (Eine kleine Führung durch die Orgel), Autorin: Friederike Heckmann

Von der Taste zum Ton (PDF-Datei)

Arbeitsblätter:

Blanko-Arbeitsblätter zum Ausfüllen (für Grundschule und ab Sekundarstufe I) für Exkursionen zu regionalen Orgeln im Unterricht (Erstellung von Orgelsteckbriefen) finden Lehrer*innen auf dem Bildungsserver des Landes unter Regionalkultur.

SM 2017, letzte Aktualisierung Mai 2021