Instrumente

Scherer-Orgel in der Stephanskirche Tangermünde

 

Scherer-Orgel in St. Stephan in Tangermünde

Orgelbauer

Hans Scherer der Jüngere (* zwischen 1570 und 1580 in Hamburg, † 1631) war der letzte Vertreter einer bedeutenden Hamburger Orgelbauerfamilie, die im 16. und frühen 17. Jahrhundert über drei Generationen die Entwicklung des norddeutschen Orgelbaus maßgeblich beeinflusste. Er baute nicht nur Orgeln in Hamburg und Umgebung, darunter die Orgel der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi, sondern auch Instrumente in Kassel, Minden, Lübeck und Tangermünde.

Orgelgeschichte

(Die unterstrichenen Begriffe finden sich im Orgelglossar)

Die Geschichte der Tangermünder Scherer-Orgel beginnt mit einer groß angelegten Hilfsaktion zwischen den Hansestädten Tangermünde und Hamburg. Nachdem die Altstadt von Tangermünde 1617 zu großen Teilen einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen war, konnte sich die Stadt nach der Renovierung der Stephanskirche keine neue große Orgel leisten. Der Rat der Stadt Hamburg sprang ein und beauftragte auf eigene Kosten den renommierten Hamburger Orgelbauer Hans Scherer den Jüngeren, eine Orgel für die Stephanskirche zu errichten. Kost und Logis für die Orgelbauerfamilie und die Gesellen übernahm die Stadt Tangermünde bzw. das dortige Kloster. Der Vertragsabschluss wird um das Jahr 1620 datiert und 1624 konnte die Orgel eingeweiht werden.

Ende des 17. Jahrhunderts begann dann eine wechselvolle Geschichte der Instandsetzungsversuche und Umbauten, die erst mit Beendigung der Restaurierung im Jahr 1994 ihr glückliches Ende finden konnte. Dazu gehörten auch die Reparaturversuche durch den langjährigen Tangermünder Organisten und Orgelbauer Johann Georg Helbig (Amtsantritt 1684), die diesem sogar ein über mehrere Jahre dauerndes Gerichtsverfahren einbrachten. Als im Jahr 1710 bemerkt wurde, dass einige hundert Pfeifen fehlten, wurde Helbig beschuldigt, diese gestohlen und anderweitig verbaut zu haben. Außerdem habe er die Orgel über Jahre nicht angemessen gepflegt. Helbig behielt dennoch seine Stelle bis zu seinem Tod 1727. Als Konsequenz aus dem Vorfall wurde von da an das Amt des Schreibers der Kirchenkasse, das seit 1620 an das des Organisten gekoppelt war, um dessen Gehalt aufzubessern, wieder eigenständig.

Helbigs gleichnamiger Sohn und Nachfolger im Amt, Johann Georg Helbig der Jüngere, war ebenfalls Orgelbauer und pflegte die Scherer-Orgel sachkundig. Außerdem reparierte und baute er mehrere kleine Orgeln in der Umgebung, darunter auch die einzige heute noch erhaltene und spielbare Helbig-Orgel in Eichstedt bei Stendal.

Anfang der 1990er-Jahre war die Situation ähnlich wie 1620: Nachdem die Orgel 1983 ausgebaut und zwecks notwendiger Restaurierung in die Werkstatt der Firma Alexander Schuke Orgelbau nach Potsdam gebracht worden war, gab es in der Stephanskirche erneut für mehrere Jahre keine Orgel. Erst die politische Wende machte es konzeptionell und materiell möglich, die Scherer-Orgel tatsächlich zu restaurieren und nach Tangermünde zurückzuholen. 1990 begann zunächst die Restaurierung des Orgelgehäuses, 1991 dann die der gesamten Orgel durch die Firma Schuke. Nachdem vorherige Umbauten im 19. Jahrhundert auch bei dieser Orgel das Klangbild „romantisiert“ hatten, erklingt die Orgel jetzt wieder in der Original-Registrierung von 1624. Dabei konnten die Restauratoren auf 50 % des originalen Pfeifenmaterials zurückgreifen. Im Jahr 2018 erfolgte eine erneute Restaurierung durch die Firma Schuke, bei der aufgrund tieferer Nachforschungen die Orgel um zwei Zungenregister erweitert werden konnten.

Technische Ausstattung

Eine Besonderheit der Scherer-Orgel stellt der sogenannte „Hamburger Prospekt” dar, den es bis dahin in Tangermünde und Umgebung nicht gegeben hatte. Diese Art der Prospektgestaltung hatte Scherer maßgeblich mit entwickelt. Die einzelnen Werke einer Orgel sind nach diesem Prinzip deutlich voneinander getrennt bzw. in separaten Gehäusen aufgestellt und von den Proportionen her sowohl optisch symmetrisch als auch ökonomisch angelegt (vgl. Friedrich, Froesch 2014, S. 187).

Das Schnitzwerk zwischen Oberwerk und Pedaltürmen bei der Tangermünder Orgel entspricht nicht der ursprünglichen Anlage Scherers. Die Orgel hat nach der Restaurierung von 2018 jetzt 34 Register auf drei Manualen und Pedal (zur Disposition siehe Link unten). Sie setzt sich zusammen aus dem Rückpositiv (1. Manual), dem Oberwerk (2. Manual, hier das Hauptwerk), dem Oberpositiv, das sich im selben Gehäuse wie das Oberwerk befindet
(3. Manual), und den beiden auffallenden großen Pedaltürmen rechts und links. Das Rückpositiv deckt den Stuhl (Sockel) des Hauptgehäuses bei mittiger Betrachtung der Orgel vom Kirchenraum aus völlig ab, sodass das Hauptgehäuse zu schweben scheint. Die Orgel erklingt wie im Original in mitteltöniger Stimmung nach Michael Praetorius.

Die Kantorin der St. Stephanskirche bietet auch Orgelvorführungen an (Kontaktdaten hier)

Klangbeispiele

Marcus Hufnagl spielt an der Scherer-Orgel

CD: Scherer-Orgel Tangermünde, Organist: Christoph Lehmann (mit Klangbeispielen zum Probehören)

Literatur

Felix Friedrich, Vitus Froesch, Orgeln in Sachsen-Anhalt – Ein Reiseführer, Altenburg 2014.

Christine Lehmann, „Die Organisation der Kirchenmusik an St. Stephan in Tangermünde vom 16. bis zum 19. Jahrhundert”, in: Musikkultur in Sachsen-Anhalt seit dem 16. Jahrhundert (= Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts, H. 42), hrsg. von Kathrin Eberl-Ruf, Carsten Lange, Annette Schneider, Halle 2007, S. 92–96.

Christoph Lehmann (Hrsg.), 375 Jahre Scherer-Orgel Tangermünde, Berlin 2005.

Links

Tangermünde St. Stephan, Scherer-Orgel (Website der Orgelbaufirma Schuke, mit Disposition)

Website der Kirchengemeinde St. Stephan Tangermünde

Anregungen für den Unterricht

Aufgabenstellung

Inwiefern weicht die Prospektgestaltung der Scherer-Orgel in Tangermünde von der Grundform des sogenannten „Hamburger Prospekts” (s. u.) ab?

Hamburger Prospekt_Werkaufbau
Schematischer Werkaufbau einer Orgel beim „Hamburger Prospekt“

 

PW = Pedalwerk, OW = Oberwerk, HW = Hauptwerk, BW = Brustwerk,
RP = Rückpositiv

Video (Link)

Die Orgel – ungewohnte Einblicke in das Instrument des Jahres 2021
Das anschauliche Video von KMD Martina Pohl und Ulrike Großhennig bietet Schüler*innen die Möglichkeit, am Beispiel der Hildebrandt-Orgel in Sangerhausen in das Innere einer Orgel zu schauen, die Funktionsweise kennenzulernen, Fragen zu stellen und sich Detailwissen anzueignen. Das Video ist für schulische Zwecke genauso geeignet wie für Interessierte an diesem einzigartigen Instrument.

Materialien zum Download

Powerpoint-Präsentation:

Von der Taste zum Ton (Eine kleine Führung durch die Orgel), Autorin: Friederike Heckmann

Von der Taste zum Ton (PDF-Datei)

Arbeitsblätter:

Blanko-Arbeitsblätter zum Ausfüllen (für Grundschule und ab Sekundarstufe I) für Exkursionen zu regionalen Orgeln im Unterricht (Erstellung von Orgelsteckbriefen) finden Lehrer*innen auf dem Bildungsserver des Landes unter Regionalkultur.

SM 2017, letzte Aktualisierung November 2021