Musikalische Bräuche

Spinnstube und Volksliedtradition

Bis etwa um 1900 waren die Spinnstuben in den Dörfern und kleinen Landstädten des Harzgebietes während der langen Wintermonate ein gesellschaftlicher Treffpunkt. Einmal in der Woche kamen die unverheirateten Mädchen abwechselnd auf einem der Bauernhöfe zusammen. Unter der Aufsicht einer Spinnmutter, die auch über die Moral wachte, wurden verspinnbare Flachsfasern zu Garn gesponnen und es wurde für Kleidung und Haushaltswäsche gestrickt, gehäkelt und genäht. Das Spinnen war zeitaufwendig und erforderte Ausdauer. Aber die Spinnstube war auch ein Ort der Begegnung, Geselligkeit und Neckereien. Nachrichten wurden ausgetauscht, es herrschte fröhliche Ausgelassenheit.

Spinnmutter aus Pabstorf um 1920

 

Spinnerinnen aus Timmenrode um 1930

 

An manchen Abenden kamen später die Burschen hinzu und es wurde mit dem Treckeding (Akkordeon) musiziert, man sang Volkslieder und erzählte Spukgeschichten, es wurde getanzt und allerlei Kurzweil getrieben. An solchen Abenden lockerten sich mitunter die Sitten. Deshalb betrachteten die Behörden diese informellen Zusammentreffen der Geschlechter kritisch. Es ergingen Verbote oder Spinnstubenordnungen.

Klangbeispiel

Da unten im Tale (Trachtengruppe Benneckenstein, Ltg. N. Duve, 1999)

Trefflich hat der Mundartschriftsteller Fritz. O. Hartmann aus Danstedt/Huy die Atmosphäre eines solchen Spinnstubenabends in einem kleinen Gedicht eingefangen:

In Winter, wenn´t schniet un de Isblaumen wast,
denn sind in de Spinnstub´ de Burschen tau Gast.
Tauerst sind de Mäkens recht flitlich un knütt,
et klappert de Nateln, dat Mulwark geiht mit.
Et bullert in´n Obe´n, de Bratäppel schmort,
de Burschen rokt Tobak un het´n grot Wort.
Von Späuken, seggt Anna, dat hör ek sau gern,
da kann man sau schöne dat Gruseln bie lern.
„Du, Otto, vortell doch de Geschichte noch mal,
wu de Su mit den Farken leip den Welken hendal.“
Doch Lieschen, dat reppet: „Wei singet sau gern!
Ach, Heinrich, nu lat doch dien Trekding mal hör’n!“
Un Heinrich, de deit dat, hei kann et sau gut;
hei kucket an Balken un denkt an sin´ Brut.
Sau singet se´t abends wol manniges Lied,
manch nies un manch oles ut Grotmudders Tiet.
Se singet, vortellt un se knütt un se lacht,
doch denn schleit et ölwe, un et het „Gude Nacht“.
Wat nu noch geschüht op´n Nahuse-Hengahn,
dat geiht blots den Burschen un Mäkens wat an.

Das nächste Klangbeispiel bringt ein weit verbreitetes Spinnstubenlied, welches u. a. auch aus Leitzkau b. Magdeburg überliefert ist.

Klangbeispiel

Spinne miene leiwe Dochter (Benneckensteiner Mundart; Trachtengruppe Benneckenstein, Ltg. N. Duve, 1999)

Mit der zunehmenden Industrialisierung verloren die Spinnstuben an Bedeutung und hörten auf zu existieren. Wenn sie auch als Pflegestätten von Volksmusik und Volksliedern überschätzt wurden, so verdanken wir ihnen doch durch den häufigen Gesang eine Reihe von Weisen und Tanzmusiken, insbesondere Liebeslieder, welche die Alten erinnerten und Volksmusikforschern im 20. Jahrhundert noch vorsingen konnten.

Klangbeispiel

Ich hab´ mir eines erwählet (Trachtengruppe Benneckenstein, Ltg. N. Duve, 1999)

Im 20. Jahrhundert scheiterte eine Wiederbelebung der Spinnstuben im Rahmen der Heimatbewegung vielerorts. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse hatten sich geändert, sie wurden nicht mehr gebraucht. Anders verhält es sich mit neueren Ansätzen: Spinnstube als Workshop zur Vermittlung volkskultureller Aspekte oder, zuletzt durch den Landesheimatbund Sachsen-Anhalt initiiert, Spinnstube als neues Veranstaltungsformat für den ländlichen Raum mit dem Ziel, Menschen verschiedener Generation in geselliger Form zusammenzubringen, um traditionelles Handwerk und regionale Volkskultur zu vermitteln. Diese Themen-Spinnstuben, durchgeführt 2016 und 2017 in Silstedt, Wernigerode und Langenstein, behandelten bisher Frühlings- und Hochzeitsbräuche, Verarbeitung von Heilkräutern, Schafzucht und Wollverarbeitung sowie Erlernen von Volkstänzen. Sie erfreuten sich guten Zuspruchs. Es bleibt abzuwarten, ob sich hieraus ein beständiges und brauchbares Konzept entwickeln lässt.

Spinnstube als neues Veranstaltungsformat: Hier eine Winter-Spinnstube mit dem Thema Volkstanz 2017

Klangbeispiel

Klangbeispiel:  Besentanz „Steck mir mal den Fidibus an“ – ein beliebter Spinnstubentanz (Musikanten der Heimatgruppe „Harzer Roller“, Harlingerode 1965)

Noten zum Download

Lied: Da unten im Tale

Lied: Schpinne miene leiwe Dochter

Lied: Ich hab´ mir eines erwählet

Volksmusik: Spinnstubenwalzer

Literatur

Christine Schlott, Spinnstuben als neues Veranstaltungsformat, Halle/Saale 2017.

Lutz Wille, Jugend trifft Harzer Folklore, Clausthal-Zellerfeld 2019, S. 218–240 (Spinnstuben- und Liebeslieder).

Lutz Wille 2020