Musikalische Bräuche

Quempas-Singen im Harzgebiet

Die weihnachtlichen Lobgesänge haben ihre Ursprünge in den lateinischen Weihnachtsliedern Quem pastores laudavere (9. Jh.; Den die Hirten lobeten sehre) und Nunc angelorum gloria (14. Jh.; Heut’ sind die lieben Engelein), denen als bekanntester Tropus (ergänzende melodische und textliche Erweiterung) Gottes Sohn ist Mensch geborn angehängt wird. Die älteste schriftliche Überlieferung stammt aus dem böhmischen Zisterzienserkloster Hohenfurth (heute Vyšši Brod, am rechten Ufer der Moldau gelegen), sie datiert um das Jahr 1450. Das „Quempas-Singen“ weist auf eine besondere Form der Liedtradition der lutherischen Kirche in Mittel- und Ostdeutschland hin: In früheren Jahrhunderten hatten die Gemeindemitglieder keine Gesangsbücher. Aus diesem Grund wurde von einem Schülerchor vorgesungen. Daraus entwickelte sich ein weihnachtlicher Wechselgesang der beiden Lieder zwischen Chor und Gemeinde, dessen Name sich aus den ersten beiden Silben des lateinischen Weihnachtsliedes Quem pastores laudavere herleitet. Eine frühe liturgische Einordung in die Christmette ist um 1545 für Dessau belegt. Der deutsche Text findet sich 1589 in einem Missale (Messbuch) des lutherischen Domdekans Matthaeus Ludecus aus Havelberg. Am bekanntesten und am häufigsten gesungen wird die Fassung von Michael Praetorius 1607 (Musae Sioniae V, Nr. 88–90). Doch es gibt eine Reihe lokaler Melodievarianten.

Karte Stammlande des Quempas-Singens

 

Der Brauch des Quempas-Singens war in vielen Orten ein fester Bestandteil der Weihnachtstradition, in der Christmette, aber auch auf Straßen und Plätzen. In Benneckenstein erklangen diese Weisen früher schon in der Vorweihnachtszeit. Wenn vom Nikolaustag an die Nachbarschaften zusammensaßen, dann erklangen neben den bekannten Weihnachtsliedern auch die überlieferten Quempaslieder, die hier zur Volkstradition gehörten und früher in der Vorweihnachtszeit sogar in Nagelschmieden, in Streichholzfabriken und Gaststätten gesungen wurden, sodass eine alte Gaststätte im Volksmund den Namen „De Chrismisse“ (Die Christmette) trug.

Die St. Laurentiuskirche zu Benneckenstein

 

Die vorreformatorischen Quempas-Weisen sind über die Jahrhunderte so in das Volk eingedrungen, dass sie sich von der strengen Melodieführung der alten Kirchentonarten (Modi) gelöst und entsprechend dem Klangempfinden des Volkes die Dur-Tonalität angenommen haben. Auf diese Weise sind sie als Volksbräuche in die Kirche zurückgekehrt.

Klangbeispiel

Die Quempas-Weisen Den die Hirten lobeten sehre/Heut sind die lieben Engelein aus Benneckenstein (Chor des Werner-von-Siemens-Gymnasiums Bad Harzburg, Ltg. W. Zirbeck, 1963)

 

Bis vor wenigen Jahren wurden diese Quempas-Weisen gesungen und bildeten das Kernstück der altüberkommenen Christmette in Benneckenstein. Auf der Orgelempore, auf den beiden Seitenemporen und unter den beiden flimmernden Christbäumen am Altar standen vier verschiedene Chöre, die jeweils aus vier bis zehn Kindern bzw. Konfirmanden bestanden. Sie gestalteten gemeinsam mit dem Kirchenchor und mit der Gemeinde in berührender Innigkeit das Quempas-Singen. Die Kinderchöre sangen abwechselnd je eine Zeile des ersten Liedes. Nach dem Strophenende fiel der Kirchenchor mit Orgel und Instrumenten mit dem zweiten Lied ein. Die Gemeinde sang den Refrain (Tropus). Heute wird der Wechselgesang von Kirchenchor und Gemeinde gestaltet, weil es nicht genügend Konfirmanden und Kinder gibt.

Programm der Christvesper von 1967

 

Für dieses festliche Singen legten die jugendlichen Sänger vielerorts bis Anfang des 20. Jhs. fein säuberlich ein Quempas-Heft an, in welches sie die Texte eintrugen und diese mit Bildern des weihnachtlichen Geschehens verzierten. Die Benneckensteiner Lobgesänge wurden von Kantor Wilhelm Gropp um 1880 aufgezeichnet.

Titelseite der gedruckten Quempas-Weisen und Weihnachtsgesänge aus Benneckenstein; handschriftlich vor 1882, gedruckt um 1920

 

Außer dem Quem-pastores-Hymnus erklangen in den Christmetten weitere Lobgesänge, sie waren ein fester Bestandteil der örtlichen Weihnachtstradition. Besonders vielfältig ist der Brauch in Siebenbürgen, wo andere Textunterlegungen der Melodie und andere Liedkombinationen vorkommen und wo den vier Kinderchören ein Lichtträger mit Leuchter vorangestellt ist. Der Leuchter (mundartlich „Lichtert“) symbolisiert Christus als „Licht der Welt“. In Benneckenstein gilt das Lied Was wird mir, mein Herze, das Jesulein geben als weitere Quempasweise. Das Lied reflektiert die Gedanken der drei Weisen bei der Anbetung im Stalle.

Klangbeispiel

Quempas-Weise Was wird mir aus Benneckenstein (Chor des Werner-von-Siemens-Gymnasiums Bad Harzburg, Ltg. W. Zirbeck, 1963)

 

Früher war das Quempas-Singen weit verbreitet. Aber schon 1937 konnten im Deutschen Reich lediglich 18 Orte festgestellt werden.  Heute ist es traditionell nur noch in einigen Reliktgebieten von Brandenburg (Luckau, Perleberg), Mecklenburg, Sachsen (Dresden, Auferstehungskirche) üblich. In Sachsen-Anhalt erklingen die Quempas-Weisen heute noch in Sandau/Elbe und einigen anderen Gemeinden des Elbe-Havel-Winkels, im Harzgebiet werden sie in Quedlinburg gepflegt. Im thüringischen Bleicherode am Südrand des Harzes wird neuerdings die lokale Quempasweise Laut loben den Schöpfer wieder in der Christmette gesungen (vgl. Grunewald 2022).

Klangbeispiel

Quempas-Weise Laut loben den Schöpfer aus Bleicherode (Chor des Werner-von-Siemens-Gymnasiums Bad Harzburg, Ltg. W. Zirbeck, 1963)

 

Ein weiterer lokaler Christmettengesang ist die Benneckensteiner Weihnachtsepistel (Jesaja 9, 1–6). Nach Aussagen des verstorbenen Stadtkämmerers W. Berger ist der Rektor und zweite Prediger Friedrich Seemann, der von 1829–1836 in Benneckenstein wirkte, der Komponist der Epistel. Sie wird in der Bergkirche von ein bis drei Konfirmanden (Knaben, Mädchen oder gemischt) von der Orgelempore aus gesungen.

Heute gestalten viele Chöre in ihren Weihnachtskonzerten den Jahrhunderte alten Wechselgesang vielerorts in der Bundesrepublik.

Video

Die Benneckensteiner Weihnachtsepistel gesungen von zwei Konfirmandinnen,
Benneckenstein 2011, Trans World Video Ronald Langer, Benneckenstein

CD-Einspielung

Lutz Wille/Otto Holzapfel/Wiegand Stief: Weihnacht im Harz. Christophorus 77244, 2001.

Noten zum Download

Benneckensteiner Quempas (PDF-Datei)

Was wird mir (PDF-Datei)

Laut loben den Schöpfer (PDF-Datei)

Die Benneckensteiner Weihnachtsepistel (PDF-Datei)

Literatur

Konrad Ameln, Quem pastores laudavere, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 11, 1966, S. 45–88.

Wilhelm Gropp, Weihnachtsepistel und Hirtengesänge, die von alters her in der Christmette zu Benneckenstein im Harz gesungen werden, für Solo, Chor und Klavier- oder Orgelbegleitung, den Alten abgelauscht und zusammengestellt von Wilhelm Gropp. Handschrift vor 1882 (Pfarramt Benneckenstein), Druckerei Labusch, Benneckenstein um 1920.

Eckhard Grunewald, Vom lauten Loben, in: Glaube + Heimat, Mitteldeutsche Kirchenzeitung, Nr. 51, 18. Dezember 2022, S. 6.

Ingeborg Weber-Kellermann, Das Buch der Weihnachtslieder, Mainz 1982.

Lutz Wille, Über das weihnachtliche Brauchtum in Benneckenstein, in: Unser Harz 2014, S. 223–227.

Links

Matthaeus Ludecus, Missale 1589 (Staatsbibliothek Berlin)

Michael Praetorius, Musea Sioniae V

Lutz Wille 2020